aus dem Buch „Es muss nicht immer Bergsturz sein“ von Josef Niklaus Zehnder
CANTINA Verlag, CH-6410 Goldau 1985

Der Leser wird es gemerkt haben, dass mich eine klare Vorliebe für Originale und Originalitäten aller Art kenn- und vielleicht sogar auszeichnet, obwohl ich mich selber durchaus nicht diesem Menschenschlag zurechne, denn ich habe mich im Verlaufe meines Lebens redlich bemüht, nicht durch Exzentrizitäten aufzufallen.

Natürlich würde es mich freuen, wenn auch meine Leserschaft ein klein wenig Freude am Umgang mit meinen Gestalten erleben könnte, und das erhoffe ich mir insonderheit im Hinblick auf das nun folgende dritte mit einer ganzen Monographie geehrte Original, nämlich meinen auch schon abberufenen Arther Freund Zeno Weber, alias Güpfen Zeni, der in Sachen Originalität ohne Bedenken als Rekordhalter eingestuft zu werden verdient und dessen Andenken in unserer Gemeinschaft unter keinen Umständen erlöschen darf. Ein Original hat zwar mehr Chancen, den Tod zu überdauern als der brave Durchschnittsbürger, aber es verdient das auch, denn Original ist und wird man ja nicht einfach deshalb, weil man will, sondern weil man dank biologischen Gegebenheiten mehr oder weniger dazu vorausbestimmt ist und nicht selten darunter zu leiden hat.

Dass Zeno Weber ein echtes Original sein musste, darüber wurde ich mir schon bei unserm ersten Zusammentreffen klar. Eben hatten wir, ein Kollege, eine Kollegin und ich, das damals noch tüchtig ratternde, gute alte Arther Tram verlassen, als ein mit einem langen, zerschlissenen und zerfransten Mantel bekleideter Alter mit ehrwürdigem, von einem weissen Bart eingerahmten Prophetengesicht von der Kirche her über den Postplatz auf uns zuschritt und uns folgendermassen anredete:

«Was habt ihr da für ein Kriegsschiff mitgebracht?» Mit dem wenig schmeichelhaften Kompliment war die Lehrerin, unsere Kollegin, gemeint, die wir in unserer Mitte hatten. Aus dem ersten kurzen Gespräch, das wir damals miteinander führten, liess sich entnehmen, dass der ulkige Alte dem schönen Geschlecht offenbar nicht allzu hold gesinnt war.

Als er dann mit seinen ausgetretenen, ihm viel zu weiten Schuhen, die Kriegsschiffen bestimmt mehr glichen als unsere nicht unhübsche Kollegin, in Richtung Kapuzinerkloster davondampfte, um dort seine Suppe zu fassen, fragte ich meinen Kollegen, was das für eine komische Gestalt sei, und erhielt die Antwort: «Kennst du den wirklich nicht? Das ist doch der Güpfen Zeni, das originellste aller Dorforiginale, da ist der Geissbock-Sebi ein Waisenknabe dagegen.»

Seinen Namen hatte ich zwar immer etwa, namentlich unter Schülern, nennen hören, aber persönlich lernte ich den berühmten Alten erst damals kennen, denn in Goldau hatte ich ihn nie gesehen.

«Seitdem ich nicht mehr regelmässiger Mitarbeiter der Rigi-Post bin», sagte er mir diesbezüglich einmal, «bringe ich es nicht mehr zu euch hinauf.» Doch hatte ich in der Folge das Vergnügen, mit ihm gelegentlich in Arth zu verkehren. Es war wirklich ein Vergnügen, ihm zuzuhören. Besonders günstig war die Gelegenheit dazu, wenn wir mit den Schülern in Arth badeten, denn in einem bei der Badanstalt befindlichen Schopf pflegte Zeni im Sommer Holz zu spalten. Und es war denn auch an einem heissen Sommernachmittag dort, dass er mir auf meine Vorstellungen hin seine Memoiren andiktierte, jedoch ohne dass er deswegen das Beil hätte ruhen lassen. Fortwährend krachten die Holzrugel auseinander, und knarrend flogen die Scheiter an die Wände des Schopfs. Nie im Leben habe ich unter so gefährlichen Umständen Memoirendiktate stenographiert.

Was mir an dem Alten bei dieser Gelegenheit besonders gefiel, waren die absolute Selbstverständlichkeit, mit der er auf mein Ansinnen, mir sein Leben zu erzählen, eintrat, und das fabelhafte Selbstbewusstsein, mit dem er es dann, übrigens in einem drolligen Hochdeutsch, auch tat. Während die Scheiter im Holzschopf umherschwirrten, musste ich, ich weiss nicht warum, an Goethe und Eckermann denken, bin mir indessen heute voll und ganz bewusst, dass diese Literaten der Nachwelt natürlich viel Wichtigeres überlieferten als der Güpfen Zeni und meine Wenigkeit, ganz abgesehen davon, dass der Altmeister von Weimar beim Diktieren seiner Denkwürdigkeiten bestimmt nicht Holz spaltete.

Das sei hier ausdrücklich festgehalten, denn anlässlich eines Vorabdrucks der mir von Zeno anvertrauten Memoiren in einer Luzerner Zeitung wurde mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit zu Ohren getragen, dass meine Zeilen ein paar Animositäten gegen mich heraufbeschworen hatten, zu deren Verschärfung ich mit diesem nun etwas abgerundeteren Lebensbild in keiner Weise beitragen möchte. Ich habe mich im Gegenteil bemüht, die Sache zu entschärfen, indem ich mich im folgenden der Notizen und Korrekturen zu Zenos Eigendarstellung seines Lebens bediene, wie sie als Echo auf meinen Artikel in gewissen Zeitungen erschienen, damit die Gestalt des Arther Dorforiginals möglichst wahrheitsgetreu unter den Menschen guten Willens weiterlebe.

«Die Leute nennen mich Güpfen Zeni, weil ich auf der Liegenschaft Äussere Güpfen geboren wurde.» In dieser Tonart begann Zeno Weber das Diktat, wobei er mir in bezug auf seinen Taufnamen erklärend hinzufügte, dass er schon dieses Vornamens wegen ein echter Arther sei, was insofern stimmt, als Sankt Zeno ja einer der Schutzheiligen des schmucken Dorfes am Obern Zuger See ist.

Weil unser Original zeitlebens mit dem Wasser auf Kriegsfuss stand, zierte ihn noch ein zweiter Übername. «Schreibt den nur auch auf!» meinte Zeno, schalkhaft lächelnd, «die Leute werden ihre Freude haben, wenn sie den gedruckt sehen; ja, das Volk nennt mich auch noch Aazopf – . . .». Den zweiten Teil dieses andern Übernamens will ich aber aus Pietätsgründen verschweigen, denn der Arther Diogenes ist nicht mehr am Leben, und über die Toten soll man nach Möglichkeit nur Gutes oder doch wenigstens nichts Schlimmes sagen.

Was mir als Lehrer an dem Verewigten kolossal imponierte, war seine im Alter an den Tag gelegte Schul- und Bildungsfreundlichkeit, die er nicht mit auf die Welt gebracht hatte. «Sieben Jahre bin ich in die Schule gegangen», so dozierte er uber diesen Abschnitt seines Lebens, «habe aber die erste Klasse repetieren müssen, so dass ich die Schule als Sechstklässler verliess. Den Unterricht habe ich leider häufig geschwänzt, und deshalb hat es im Zeugnis nur so von krummen Einsern gewimmelt.»

Das gestand mir die redliche Seele gleich zu Beginn ihrer Lebensbeicht. Wohl um dieses Versäumnis so weit als möglich gutzumachen, bat mich Zeno in den Tagen unserer Bekanntschaft wiederholt um ausgediente Schulbücher, um seinen nachgeborenen Wissensdurst zu stillen. Seine Lieblingsfächer waren, genau wie bei den Sekundarschülern, Geschichte und Geographie, in denen er, als ich mit ihm verkehrte, recht ansehnliche Kenntnisse besass. Besonders beschlagen war er in den Ereignissen der Jahrhundertwende, was mir bewies, dass er schon damals mit offenen Augen und Ohren gelebt hatte. Wie ein Professor referierte er über den letzten deutschen Kaiser und die Kaisermanöver, was gar nicht zur Voraussetzung hat, wie in einer der erwähnten Zeitungseinsendungen an meine Adresse zu lesen stand, dass er den Kaiser und die Pickelhauben persönlich gesehen haben musste, sondern höchstens, dass er immer ein gesundes Interesse für das politische Geschehen in der Welt in sich verspürte.

Natürlich unterlief ihm beim Diskutieren immer etwa ein Lapsus. So verwechselte er Bad Ems mit Bad Ischl, während die Masurischen Seen in seinem Mund zu «Mandschurischen Sümpfen» degenerierten. Für das letztere wird aber jedermann Verständnis aufbringen, der, wie Güpfen Zeni, die dreissiger Jahre miterlebte, als – nicht zuletzt im Immenseer Missionsheft – so viel von der Mandschurei die Rede war. Peinlicher wurde es, wenn Güpfen Zeni sich auf das Glatteis des Franzosischen hinauswagte. Da konnte es ihm entschlüpfen, statt «état-major» etwa «étage-major» zu sagen, so dass der Zuhörer zuerst an so etwas wie «obern Stock» dachte, dieweil good old Zeno den französischen Generalstab im Kopf hatte!

Schulfreundlich war also unser Original in seinen alten Tagen, habe ich bemerkt. Erführe das Schwester Klaudine, bei der Zeno im Erdgeschoss des Bürgerheims die erste Klasse zweimal absolvierte, sie würde sich wohl vor Freude im Grab umdrehen. Zu mir meinte er einmal: «Lehrer sein ist das Undankbarste, was Ihr tun könnt; da könnt Ihr euch um die junge Lümmelware abmühen, und dann bekommt Ihr ordeli den Schuh in den Hintern . . .» Für das letzte Wort verwendete er allerdings eine etwas derbere Version. Wohlmeinende Leute gaben mir zwar zu verstehen, dass Zeno mitunter auch anders redete. So soll er einmal geplaudert haben, die Gemeinde Arth würde eines Tages ihr gesamtes Steuergeld für die Entlöhnung der Lehrerschaft brauchen und schliesslich noch auf den Hund kommen. Hätte er diesen Ausspruch wirklich einmal getan, ich wäre ihm darob nicht gram, denn er würde ihn ja höchst wahrscheinlich nur von jemand anders übernommen haben. Also: Schwamm darüber!

Man wird nicht so ohne weiteres ein Original, wenn man nicht etwas Bestimmtes oder ein bestimmtes Etwas mit auf die Welt bringt, wofür man ja nicht verantwortlich ist, wie ich einleitend kurz ausgeführt habe. Das trifft auch bei unserm Zeno zu. Sein vom Spitzibüel auf den Höhen des Rossbergs stammender Vater, der sich in der Güpfen eingeheiratet hatte, war nämlich auch ein Original vor dem Herrn gewesen. Nachdem über ihn zu Recht oder zu Unrecht das Gerücht in Umlauf gesetzt worden war, er lasse seine drei Buben zu Hause darben, marschierte er ab und zu mit einem ganzen Kranz von Cervelas um den Hals und zwei grossen Brotlaiben unter den Armen durch das Dorf, um den lieben Mitbürgern möglichst augenfällig die Unhaltbarkeit ihrer Verdächtigungcn zu beweisen.

Etwas Einmaliges in Zenos Leben muss nach der Schilderung eines Jahrgängers der Tag der Rekrutierung im Oktober 1906 zu Schwyz gewesen sein. Er, der am 29. November 1887 das Licht der Welt erblickt hatte, gehörte übrigens vom Standpunkt der eidgenössischen Wehrhaftigkeit aus einem denkwürdigen Jahrgang an. Es war nämlich der erste, der eine sportliche Prüfung ablegen musste, aber der letzte, der mit einer nur siebenwöchigen Rekrutenschule davonkam. Aus dem Dorf am See stellten sich in jenem Jahr 25 mehr oder weniger stramme Rekruten. Das «weniger» bezieht sich hier, wie könnte es anders sein, nur auf unsern Helden, der ausgerechnet an jenem Morgen mit Verspätung auf der Hofmatt eintraf, wo die Burschen sich zu besammeln hatten, so dass Heiri Bodmer, der Führer des Gigsilokomotivli, wie das ARB-Vehikel im Volksmund genannt wurde, mit ausserfahrplanmässiger Geschwindigkeit nach Goldau hinauf puffen musste. Damals puffte es nämlich noch bei der ARB, die aber bereits im folgenden Jahr – und zwar als eine der ersten Bergbahnen – elektrifiziert wurde. Trotz der durch Zeno verschuldeten Verspätung klappte in Goldau der Anschluss, und in Seewen versteckten die Arther beim Abmarsch ihr Sorgenkind wohlweislich in der Mitte, wie wenn sie etwas geahnt oder befürchtet hätten. Bei der nun folgenden ärztlichen Untersuchung erlebte der wasserscheue Zeno erstmals im wahren Sinn des Wortes eine kalte Dusche. Von einer zweiten werden wir noch hören. «Natürlicherweise», Weiss der zeitgenössische Kamerad zu berichten, «wurden die Noten im Dienstbüchlein ebenfalls krumm, und das Resultat hiess: Untauglich, hilfsdienstpflichtig!» Ob das Verdikt tatsächlich so diskriminatorisch lautete, dafür kann ich nicht bürgen. Immerhin möchte ich zur Ehrenrettung der Hilfsdienstpflichtigen (HD) neueren Datums anführen, dass wir – ich gehöre bekanntlich auch dazu – wohl als hilfsdienstpflichtig, nicht aber als «untauglich» bezeichnet wurden.

Sei dem, wie ihm wolle, Tatsache ist, dass das Schicksal unserem Zeno den Marschallsstab offenbar nicht in den Tornister gelegt hattte, weshalb er sich ein paar Jahre später entschloss, seine Lorbeeren auf einem andern als dem Felde der Ehre zu ernten. Am 22. Juli 1914, ausgerechnet eine Woche vor Kriegsausbruch, reiste er nämlich nach Frankreich, um bei einem in der Normandie ansässigen Gutsbesitzer, der aber aus der Schweiz stammte, als Knecht zu dienen. Schon waren also die verhängnisvollen Schüsse von Sarajevo gefallen, und schon brannte die Lunte, die am 1. August den entsetzlichen Weltbrand entfachte.

Für den Güpfen Zeni sollte das mit so hohen Erwartungen begonnene Unternehmen Normandie indessen in ein vollständiges Fiasko ausarten. Von Lorbeeren keine Spur! Als er mir die Memoiren andiktierte, drückte er sich in seiner nicht immer blumigen Sprache in bezug auf diese Etappe seines Erdendaseins folgendermassen aus: «Da der Meister än ungwändte Chaib war, ist ihm der Güpfen Zeni davongeloffen.» Tatsächlich machte er diesen Blödsinn am 3. August, zwei Tage nachdem Berlin an Paris den Krieg erklärt hatte, und zwar unter Zurücklassung sämtlicher Ausweise! Obwohl ich in dem erwähnten Vorabdruck von Zenos Lebensbild dessen Aussagen über den Meister mit dem Sicherheitsventil des Konjunktivs wiedergab, trug mir das in einer Zeitung ein Rüffelchen ein, dessen Quintessenz ich hier mit aufrichtiger Genugtuung mitteile: Zenos Meister in der Normandie soll alles andere als «än ungwändte Chaib» gewesen sein, er sei im Gegenteil ein Ehrenmann vom Scheitel bis zur Sohle gewesen, und im Unrecht war, als er ihm davonlief, offenbar mein verewigter Freund, der leider noch nicht gelernt hatte, sich der Umwelt anzupassen:

Und jetzt beginnt Zenos grosses Abenteuer!

Es herrschte also Krieg, und unser Ausreisser und Auslandschweizer wusste nichts Gescheiteres zu tun, als sich zwei deutschen Handwerksburschen anzuschliessen, die nach Le Havre zeihen wollten. Doch wurden alle drei von der franzöischen Polizei als Spione verhaftet. Kriegszeiten sind ja stets durch Spionspsychose gekennzeichnet. «Ein Polizist legte uns Rosenkranze an», sagte Zeno mit grimmigem Hohn, womit er die Handschellen meinte. Die drei wurden ins Gefängnis von Les Andelys im Département Eure eingewiesen, wo sie Zuchthäuslerkleidung erhielten und Pfropfen für Champagnerflaschen herstellen mussten. Ob auch sie Champagner bekommen hätten, fragte ich natürlich nicht. Hier auch geschah es, dass unser wasserscheuer Eidgenosse im Interesse der Hygiene das zweite Mal kalt abgeduscht wurde, so dass sich wohl niemand mehr ob seiner fatalen Abneigung gegen das nasse Element verwundern wird. Und ebenfalls in Les Andelys war es, dass unser nur mutmasslicher Spion von Offizieren des schon erwähnten «ètage-major» des langen und breiten verhört wurde, «von dicken Kläusen mit borstigen Schnäuzen und breiten Schnüren auf dem Käppi», wie es Zeno in seiner plastischen Sprache schilderte. Nach ein paar Tagen landeten die drei armen Teufel im Gefängnis von Rouen, wo sie sich auf die Betten stellen mussten, wenn sie durch das Guckloch der Zelle den Innenhof erblicken wollten.

Gottlob aber nahm das Abenteuer, wenigstens für Zeno, nicht zuletzt dank den Bemühungen seines Meisters und der Gemeindebehörden von Arth, ein glimpfliches Ende, denn nach ein paar Wochen Zwangsaufenthalt in Rouen war auch der am meisten Argwohn hegende Inquisitor der französischen Militärpolizei zur Überzeugung gelangt, dass der Citoyen aus Arth kein Spion sein konnte.

So wurde dann unser Zeno entlassen und reiste von Paris aus auf Umwegen über Mâcon und Bellegarde nach Genf. Für die lange Fahrt brauchte er kein Billett, In Mâcon verbrachte er die Nacht im Wartsaal, als Wächter beim «Bagaschi» einer Jurassierin, die, auch auf der Heimreise begriffen, mit ihrem Kind in eine Gaststätte schlafen gegangen war. Kein Abschnitt diese abenteuerliche seines Lebens fesselte mich so sehr wie Rückkehr in die Schweiz, erinnerte sie mich doch stark an ein ähnliches Erlebnis aus meinem eigenen Leben, als ich 1939 nach Ausbruch des zweiten Weltbrandes gleichfalls unter ausserordentlichen Umständen das vom Krieg überraschte Frankreich von einem Ende zum andern durchqueren musste, nur dass ich mir dummerweise eine Fahrkarte beschafft hatte, die dann auf der ganzen Reise nie von jemand zur Kontrolle verlangt wurde.

In Arth soll die Rückkehr unseres Ausreissers, wenn man seinen Worten Glauben schenken darf, sensationell gewirkt haben, und die Nachricht davon soll sich wie ein Lauffeuer durch die Gassen des Dorfes verbreitet haben.

Das französische Debakel hinterliess bei Zeno zeitlebens einen bittern Nachgeschmack, und ich vermute, dass hier der Grund dafür zu suchen ist, warum er besser auf die Deutschen als auf die Franzosen zu sprechen war . . . Die Einstellung zu einer Nation hängt manchmal von unangenehmen Erlebnissen mit einem einzigen ihrer Vertreter ab.

Was mich an der ganzen Geschichte am nachhaltigsten beeindruckte, war, wie der falsche Spion, als er, über seinen Aufenthalt im Gefängnis von Rouen berichtend, zu mir sagte: «Wisst Ihr, die Stadt, vor deren Kathedrale die Jungfrau von Orléans verbrannt wurde!»

«Hat er Ihnen das ‘Sonnenbergler Vaterunser’ auch aufgesagt?» fragten mich an jenem Nachmittag ein paar Schüler, als sie mich aus dem Holzschopf bei der Badanstalt treten sahen. Tatsächlich spielte dieses sonderbare Gebet im Leben unseres Originals eine wichtige Rolle, und da es sich dabei um eine interessante Episode aus unserer Gemeindepolitik handelt, möge die Sache hier auch erwähnt sein. Das Sonnenbergler Vaterunser entstand nach der Jahrhundertwende im Anschluss an eine heftige Auseinandersetzung über die . Frage, ob man bei der Zuger Linie auf der Errichtung einer Eisenbahnhaltestelle am Sonnenberg, zu dem der Aazopf ja gehört, bestehen oder aber die von der Gotthardbahn angebotene Abfindungssumme von 70 000 Franken zur Verbesserung der ARB-Kurse zwischen Arth und Goldau annehmen solle. Als Sonnenbergler konnte es Zeno zeitlebens nie schlucken. dass man damals auf die Haltestelle verzichtet hatte. «Eine Gaunerei ist das gewesen», rief der alte Mann zornig aus, als er darauf zu sprechen kam, wobei er mit der Axt so wuchtig auf den Holzrugel einhieb, dass zu befürchten stand, er würde in der Hitze des Gefechts auch noch den Spaltstock in zwei Teile auseinanderfliegen lassen, gerade so wie einst Uhlands wackerer Schwabe auf einem Kreuzzug mit dem türkischen Reitersmann verfahren war. «Ja, das Stimmenmehr zugunsten der Abfindungssumme ist erkauft worden, ein Schwindel war alles!» brüllte das plötzlich in einen Löwen verwandelte Schaf mit solcher Heftigkeit in den Schopf hinaus, dass die davor lauschenden Buben in ein schallendes Gelächter ausbrachen.

Hier sei allerdings hinzugefügt, dass Zeno auch in dieser Sache falsch gewickelt war, wie denn ja in der Ortspolitik die Menschen sich nicht selten von der Leidenschaft und vom Wunschdenken, statt vom klaren Verstand leiten lassen. Bei dieser Streitfrage, die der Entstehung des Sonnen-bergler Vaterunsers zu Gevatter stand, verhielt es sich nämlich in Tat und Wahrheit so, dass die Gotthardbahn sich mit allen Kräften gegen eine Haltestelle am Sonnenberg sträubte, wie sie das Jahre zuvor schon getan hatte, als es sich darum handelte, eine solche zwischen Goldau und lmmensee am Schattenberg einzurichten.

In dieser Situation also wurde im Zusammenhang mit der Abstimmung vom Ostermontag 1903 das berühmte Sonnenbergler Vaterunser geboren, das nichts anderes ist als eine Verulkung der Gegner der Haltestelle. Gedichtet habe es, behauptete Zeno, ein in Amerika verstorbener Alois Wiget, worauf es ein gewisser Güggeli-Kari in Umlauf gesetzt habe. «Nur noch zwei Personen können es heute aufsagen», fuhr Zeno weiter, wobei man merkte, dass er sich im klaren war über die Wichtigkeit seiner Rolle als Hüter einer geheiligten Tradition, «ich und eine alte Frau, die es aber nicht mehr so ordeli weiss, so dass eigentlich nur ich es noch ganz richtig kann.» Damit das lokalgeschichtliche Kleinod, nachdem auch Zeno schon vor Jahren den Weg alles Fleisches gegangen, nicht in Vergessenheit gerate, möchte ich es hier gewissermassen als Testamentsvollstrecker des grossen Originals der Nachwelt anvertrauen, getreu so, wie er es mir im Holzschopf andiktierte, wobei ich allerdings bemerken muss, dass ich es auch noch in einer andern, von Zeno in seiner charaktervollen deutschen Handschrift selbst aufgezeichneten Version besitze, die aber etwas lückenhaft ist. Es lautet folgendermassen:

«Regierungsrat unser, der du bist in Schwyz. Zukomme uns deine Macht. Dein Wille geschehe wie in Schwyz so auch im Gemeinderat Arth. Vergib dem Rössliwirt seine Rede vom Ostermontag 1903. Führe uns nicht in den Laden des Adolf Ottiger, sondern erlöse uns von Oberst Fassbind und anderen Herren. Ehre sei dem Fach, Kenel und Weber. Wie die Haltestelle war im Anfang, so wird sie bleiben in Ewigkeit. Amen. Gegrüsst seist du Schäfliwirt, der du bist voller Eisenbahnbillette. Du bist gebenedeit unter den Dörflern und gebenedeit ist dein Italiener-Ochsenfleisch. Heilender Grauschnauz zum Rössli, jetzt und in der Stunde des Rigibahn-Absterbens. Amen.»

In den letzten Monaten seines Lebens traf ich Zeno nicht mehr. Ab und zu sandte er mir eine Ansichtskarte, die eine buntschillernder als die andere. Auf einer davon steht in einer Schrift, die nicht die seine ist, folgendes: «Lieber Freund! Wen du dise Woche in die Badanstald kommst, Bringe mir Bitte Schulbücher.» Ich vermute, dass der Schreiber mit seiner nicht ganz dudengetreuen Schreibart mich als Lehrer etwas herausfordern wollte . . . Auf einer andern, von Zeno selbst mit Bleistift bekritzelten Karte steht: «Liebwerter Herr Oberlehrer! Besten Dank für die schönen Bücher, könnt wieder solche senden, wenn ihr habt. Bitte die Karte aufbewahren!»

Aus diesem letzten Satz, Zenos letzten an mich gerichteten Worten, über die vielleicht mancher lächeln wird, glaube ich, so etwas wie eine Bitte an mich herauslesen zu müssen, nämlich dafür zu sorgen, dass mein Freund noch übers Grab hinaus ein bisschen unter uns weilen dürfe, und wenn ich mit diesen paar Seiten ein wenig zur Verwirklichung des heimlichen Sehnens des Arther Philosophen der Genügsamkeit beitragen könnte, so würde es mich gewaltig freuen. Wo steht denn geschrieben, dass nur Cäsaren und andere Potentaten im Andenken der Menschen weiterleben sollen und nicht auch einfache Mannen, die der Menschheit so gut wie keine Scherereien bereitet haben?

Nach der zweiten der erwähnten Ansichtskarten traf also keine weitere mehr bei mir ein, und bevor ich mich auch nur recht mit dem Gedanken befassen konnte, Zeno wieder einmal aufzusuchen, war es geschehen: da stand eines Tages im Kästchen beim Goldauer Polizeiposten, dass unser Dorforigina1 am 14. Januar 1962 gestorben war. Seit Wochen hatte Zeno gekränkelt, und als man merkte, dass es mit ihm bergab ging, wurde er auf ärztliche Weisung an einem Sonntag ins Bürgerheim verbracht, wogegen er sich jahrelang gesträubt hatte, obwohl er dort, wie man ihm behördlicherseits mehrmals auseinandersetzte, gute Pflege bekommen hätte. Doch kaum war der neue Insasse des Bürgerheims auf ein frisches, weisses Lager gebettet, hauchte er zufrieden seine Seele aus. Es sah so aus, als hätte er, dem man einen gewissen Eigensinn nicht absprechen konnte, sagen wollen: All diesen Luxus brauche ich nicht, ich bin an Einfacheres gewöhnt.

Wenn je, so konnte man bei dieses Mannes Abschied von unserer Welt mit Recht wiederholen, was einst ein Weiser des Altertums von sich gesagt hatte: «Omnia mea mecum porto», d.h.: Meine ganze Habe trage ich auf mir. Ja, so wenig besass der eigenwillige Klausner von der Lotterbude im Aazopf, dass er sich im Sterben so gut wie von nichts zu trennen brauchte. Da er, wie einst im Altertum Diogenes, nichts sein eigen nannte, konnte er buchstäblich alles mit sich nehmen. Und wer würde einen Menschen, der so friedlich von hinnen zieht, darob nicht ein bisschen beneiden?