von Michael Rudloff

Um es vorweg zu nehmen: das letzte Treffen der Schweizer Karl-May-Freunde am 10. September 2000 in Wil war ein voller Erfolg, bekam man doch zum Schluss rundum nur zufriedene Gesichter zu sehen. Nicht nur die Mitglieder unseres Freundeskreises waren auf ihre Kosten gekommen, sondern auch eine zahlreiche Zuhörerschaft, die erschienen war, den beiden Vorträgen zu lauschen, die unter dem Patronat der dortigen Stadtbibliothek im altehrwürdigen Hof zu Wil geboten wurden.

Nach einer kurzen Begrüßung und einführenden Worten durch Elmar Elbs berichtete CH-KMF-Mitglied Edgar Müller aus Leipzig über Tecumseh (1768 – 1813), den großen Shawnee-Indianer. Gebannt lauschten die Zuhörer und begeisternden Worten des Referenten, der aus dem Leben eines charismatischen Indianers informierte. Wurde im Titel des Referates noch die Frage gestellt: „Tecumseh – ein Vorläufer von Karl Mays Winnetou?“, war man am Schluss des wortgewaltigen Vortrags gerne bereit, das Fragezeichen zu streichen und durch ein Ausrufezeichen zu ersetzen.

Den zweiten Vortrag hielt der aus Wil stammende Karl-May-Freund Willi Olbrich. Mit Hilfe etlicher, per Dia auf die Leinwand projektierter Ansichtskarten der Jahrhundertwende, nahm er das Publikum mit auf einen Streifzug, um Karl Mays Lebens- und Reisewege kennen zu lernen. Abgerundet wurde der spannende Vortrag durch zwei hervorragend gemachte Videos, in denen unter anderem auch Karl Mays Spuren in der Schweiz nachgegangen wurde. Den meisten Besuchern des Vortrages – sofern es sich nicht um CH-KMF-Mitglieder gehandelt hat – dürfte es unbekannt gewesen sein, dass man in der Schweiz ganz direkt auf Karl Mays Reisewegen wandeln kann. So wies Willi Olbrich auf drei Besuche des erfolgreichen Schriftstellers in der Schweiz hin. Ein erster Aufenthalt läßt sich im Sommer 1893 nachweisen, als sich Karl May in Böningen am Brienzer See aufhielt (bei Interlaken). Zusammen mit Ehefrau Emma und der Familie seines Verlegers Friedrich Ernst Fehsenfeld verbrachte er hier einige Urlaubstage (vgl. hierzu z.B. die im Jb-KMG 1978 S. 154 f. wiedergegebenen Erinnerungen von Frau Fehsenfeld).

Ein zweites Mal weilte Karl May Ende März / Anfang April 1899 in der Schweiz. Diesmal befand er sich allerdings nur auf der Durchfahrt. Von Freiburg im Breisgau kommend ging es nach Lugano und von dort über Como, Mailand und Pavia nach Genua, von wo aus er erstmals Europa verließ, um seine große, schicksalsträchtige Orientreise anzutreten. Und obwohl May das Land der Eidgenossen diesmal im wahrsten Sinne des Wortes durcheilte, nahm er doch einiges an Eindrücken in sich auf. Diesen Empfindungen verdanken wir die in Lugano zu Papier gebrachten Gedichte „Am Gotthard“ und „San Salvatore“, sowie die etwa zwei Wochen später in Ismailija und Kairo verfassten Gedichte „Am Vierwaldstädter See“ und „Auf Rigi-Kulm“ (vgl. das „Reisetagebuch“ in Band 82 der Gesammelten Werke, „In fernen Zonen“).

Mitte September 1901 fuhr May dann ein drittes Mal in die Schweiz. Im berühmten Wallfahrtsort Einsiedeln führte er zuerst geschäftliche Verhandlungen mit dem dortigen Verlag Eberle & Rickenbach. Gegen Ende des Monats begab er sich dann von Einsiedeln aus in die Weltabgeschiedenheit des Rigi-Kulm-Gipfels. Über Jahrzehnte hinweg ging die Karl-May-Forschung davon aus, dass May dort sein pazifistisch geprägtes Spätwerk „Et in terra pax“ zu Papier brachte. Inzwischen steht jedoch fest, dass er im Rigi-Kulm-Hotel höchstens noch am Schlussteil dieses Romans feilen konnte (vgl. Jb-KMG 1972 S. 73 f.), doch ist gesichert, dass er hier intensiv an der Broschüre „Karl May als Erzieher“ arbeitete. Klar, dass während des Vortrages in Wil auch darauf hingewiesen wurde, dass es den schweizerischen Karl-May-Freunden zu verdanken ist, dass der nächste Kongress der Karl-May-Gesellschaft aus Anlass des 100. Jahrestages des Aufenthaltes des sächsischen Märchenerzählers in der Schweiz im September 2001 in Luzern und auf dem Rigi stattfinden wird. Willi Olbrich ist auf jeden Fall für die gelungenen Videos und den werbewirksamen Hinweis auf Karl Mays Spuren in der Schweiz zu danken.

Dass man im Land der Eidgenossen auch indirekt auf den Spuren Karl Mays wandeln kann, bewiesen die Schweizer Karl-May-Freunde schon oft. Besonders intensiv geschah dies vor Jahresfrist, als man anlässlich des Treffens vom 31. Oktober 1999 in das Kohlebergwerk Käpfnach bei Zürich einfuhr und in Gedanken bei der im „Verlorenen Sohn“ (Das Buschgespenst) so dramatisch geschilderten Verfolgung des jungen Fritz Seidelmann in einem stillgelegten Stollen war. Die damalige Fahrt weckte – wie man dem CH-KMF-INFO 1/2000 entnehmen kann (es lohnt sich, den Bericht nochmals nachzulesen) – überhaupt Assoziationen an unterirdische Abenteuer, wie sie Karl May so trefflich zu schildern wusste.

Der bereits erwähnte Kolportageroman „Der verlorene Sohn“, aus dem der Karl-May-Verlag die Bände „Das Buschgespenst“, „Der Fremde aus Indien“, „Der Verlorene Sohn“, „Sklaven der Schande“ und „Der Eremit“ (Bände 64, 65, 74, 75 und 76 der Gesammelten Werke) herausfilterte, bietet allerdings noch weitere Ansätze für Gedankenverbindungen à la „Karl May und die Schweiz“. So ist „Der verlorene Sohn“ das einzige Werk Mays, in dem diesem die Vokabel „Schweiz“ aus der Feder floss – zumindest ergab eine Überprüfung der bislang im Internet enthaltenen May-Texte keine weiteren Nennungen –. Dass der Begriff „Schweiz“ für May eine positive Bedeutung hatte, kann unschwer den Zusammenhängen entnommen werden, in denen er ihn verwendete. So erfährt der geneigte Leser, dass der Hauptheld Gustav Brandt, als er zwanzig Jahre nach seiner Flucht – inzwischen in Indien zu einem reichen Mann geworden – inkognito als Fürst von Befour in die Residenz seiner Heimat zurückkehrt, dort in der Palaststraße ein Herrschaftshaus bewohnt. Durch den Garten dieses fürstlichen Palais gelangt man zu einem kleinen „Häuschen in freundlichem Schweizerstyl, welches nur für eine Familie eingerichtet sein konnte“. In diesem Gebäude, Siegesstraße Nummer zehn, wohnen die Eltern Gustav Brandts als Verwalter der beiden Anwesen. Im Verlauf der Romanhandlung finden übrigens sowohl der Dichter Robert Bertram (wie Gustav Brandt eine Ich-Spiegelung Mays) als auch dessen Stiefgeschwister Unterschlupf in diesem behaglichen Häuschen. Das trauliche Gebäude „in freundlichem Schweizerstyl“ bietet Schutz und Geborgenheit; dort Gastrecht zu erhalten kommt einem Platz auf der Sonnenseite des Lebens gleich.

Neben diesem Haus im „freundlichen Schweizerstyl“ wird im „Verlorenen Sohn“ noch ein in Rollenburg gelegenes „Hotel Schweizerhaus“ erwähnt, in das man Emilie Werner – Tochter des Theaterdieners Werner und Schwester der angeblichen Kindsmörderin Laura Werner – brachte, nachdem man sie aus der Hand skrupelloser Zirkusleute befreit hatte, die sie mit Gewalt zum unkeuschen Auftritt als „Tau-Ma“ zwingen wollten. Da Karl May selbst nicht an Zufälle glaubte, sei dahingestellt, ob es denn ein solcher ist, dass im „Verlorenen Sohn“ zweimal eine Zufluchtsstätte mit dem Ausdruck „Schweiz“ in Verbindung gebracht wird.

Zwar sind die beiden obigen „May-Schweiz-Verbindungen“ aus dem „Verlorenen Sohn“ für sich betrachtet nicht gerade aufregend, doch gibt es noch eine weitere Textstelle, in der May auf die Schweiz bezug nimmt. Und zwar erzählt der Fürst von Befour (unter Wahrung seiner Anonymität) seiner Jugendliebe, Baronesse Alma von Helfenstein, dass er ein Freund ihres verschollen Milchbruders Gustav Brandt sei. Von diesem (Gustav Brandt) berichtet er: „Er sehnt sich mit dem Heimweh des Schweizers nach seinem Vaterlande, und er darf doch nicht in dasselbe zurück, bis der wirkliche Thäter gefunden ist.“

Dass Karl May den Haupthelden des Romans an Heimweh leiden lässt, verwundert auf den ersten Blick. Gustav Brandt alias Fürst von Befour alias Fürst des Elends wird nämlich ansonsten durchaus als Mensch ohne Schwächen dargestellt. Und wenn man Heimweh als eine seelische Erkrankung definiert, die aus dem Unvermögen entsteht, sich in der Fremde an- bzw. einzupassen, entspricht dies nicht gerade der Omnipotenz, mit der dieser Romanheld ansonsten ausgestattet ist. Im vorliegenden Fall muss man sich jedoch vergegenwärtigen, dass Gustav Brandt die Heimat unversehens verlassen musste. Aufgrund seiner Flucht musste er sowohl Vater und Mutter als auch seine Jugendliebe Alma von Helfenstein zurück lassen. So ist es nicht als Zeichen der Schwäche zu verstehen, wenn er sich nach der Heimat und den Personen, die er liebt, zurück sehnt. Im Gegenteil, das Heimweh stellt hier vielmehr einen sympathischen Zug eines im Ausland gut situierten dar. Am eigenen Leib bzw. an der eigenen Seele dürfte Karl May die Gemütserkrankung Heimweh weniger angenehm kennen gelernt haben. Nachdem er am 26. Juli 1869, unter zerbrechen seiner eisernen Handfessel, auf einem Gefangenentransport aus Polizeigewahrsam entflohen war, weilte er zuerst noch einige Zeit in den Wäldern Hohensteins, bevor er, bis zu seiner erneuten Verhaftung am 4. Januar 1870 im böhmischen Niederalgersdorf – wo er völlig erschöpft und bar jeder Mittel aufgegriffen wurde –, durch die damaligen Länder Sachsen-Altenburg, Preußen, Sachsen-Weimar-Eisenach, Coburg-Gotha und eben Böhmen vagabundierte (vgl. Jb-KMG 1972/73 S. 215 f.). Obwohl es ihm von Woche zu Woche schlechter ging, musste er, der polizeilich Gesuchte, zum Landstreicher verkommen, Heimat und Elternhaus meiden. Es liegt nahe, dass er damals nicht nur an Hunger und Kälte, sondern auch an Heimweh litt.

Gustav Brandt (wie bereits erwähnt eine der beiden Ich-Spiegelungen Mays im Roman) ließ er aber nicht nur „einfaches“ Heimweh verspüren, nein, Karl May bemühte das „Heimweh des Schweizers“, um die Größe der das Körper- und Seelenleben tief beeinflussenden Sehnsucht nach der Heimat und den zurück gelassenen Lieben darzustellen. Die auf den ersten Blick befremdliche und ungewöhnliche Redewendung vom „Heimweh des Schweizers“ geht auf den schweizerischen Naturforscher Johann Jacob Scheuchzer zurück, der 1672 in Zürich geboren wurde und 1733 dort als Stadtphysikus (Stadtarzt) und Professor der Mathematik verstarb. Scheuchzer, nach dem unter anderem der fossile Riesensalamander „Andrias scheuchzeri“ benannt wurde, unternahm eine systematische naturwissenschaftliche Erforschung der Schweiz in geographischer, mineralogischer, botanischer und zoologischer Hinsicht. In einer seiner zahlreichen Veröffentlichungen, und zwar im wöchentlich erscheinenden Journal „Naturgeschichte des Schweizerlandes“, das auch in Deutschland viel gelesen wurde, beschrieb er unter dem Titel „Von dem Heimwehe“, diese „uns Schweizern besondere Krankheit“ und schlug Mittel zur Heilung derselben vor (der angesprochene Artikel befindet sich in der Nummer 15 vom 20. Mai 1705, Seite 57; im Jahre 1746 gab J. G. Sulzern in Zürich die Natur-Geschichte in zwei Bänden neu heraus). Die Formulierung „Heimweh des Schweizers“ ist also nicht ein Produkt der Phantasie Karl Mays, mit ihr umschrieb er die schwerste Form, in der diese Krankheit auftreten kann. Intensiver kann sich niemand nach der Heimat bzw. nach den Lieben sehnen. Dies bedeutet gleichzeitig, dass sich auch niemand mehr als Gustav Brandt nach Gerechtigkeit, Aufdeckung der (an ihm und anderen) begangenen Verbrechen und nach Rehabilitation sehnen kann. Mit „Heimweh des Schweizers“ wird somit keine Schwäche, sondern im Gegenteil in der größtmöglichen Steigerungsform etwas Positives umschrieben.

Zum Schluss kann somit festgehalten werden: Wer will, kann auch in der Schweiz – direkt oder indirekt – auf den Spuren Karl Mays wandeln. Den Schweizer Karl-May-Freunden ist dies natürlich schon längst bewusst, und spätestens im September kommenden Jahres wird dies anlässlich des 16. Kongresses der Karl-May-Gesellschaft in Luzern und auf dem Rigi auch international bekannt werden. Freuen wir uns schon jetzt darauf!

Michael Rudloff, D-79191 Gundelfingen, Mitglied der CH-KMF, im Oktober 2000