Das Labyrinth – ein uraltes Symbol

Im Labyrinth verliert man sich nicht – man findet sich.
Im Labyrinth begegnet man nicht dem Minotaurus – im Labyrinth begegnet man sich selbst.

Das Labyrinth

gehört zu den ältesten symbolischen Zeichen der Menschheit. Man findet es auf alten kretischen Münzen, auf etruskischen Vasen, an sizilianischen Gräbern, auf indonesischen Goldringen, aber auch auf Schmuckstücken nordamerikanischer Indianer. Labyrinthe wurden in spanische, englische, russische Felsen geritzt, in französische Kathedralen als Bodenmosaike ausgelegt, in indische Tempelverzierungen eingebaut und in pakistanische Moscheen geschnitzt. Sie wurden aus englischem und deutschem Rasen gestochen und in Skandinavien, Russland, Indien und Nordamerika mit Steinen ausgelegt.

Kretischer Ursprung

Labyrinth ist die Bezeichnung für das Bauwerk, das Dädalus nach seiner Flucht aus Athen für König Minos auf Kreta erbaut hat. Es besteht aus vielen Irrgängen und ist dazu bestimmt, den Minotaurus – ein Ungeheuer, halb Mensch, halb Stier – aufzunehmen. Kein Uneingeweihter konnte in diesem Gängegewirr den Ausweg wiederfinden. Deswegen gibt die Königstochter Ariadne dem Helden Theseus ein Garnknäuel mit auf den Weg, das es ihm ermöglicht, nach der Tötung des Minotaurus den Rückweg zu finden.

Labyrinth und Irrgarten

Beim Labyrinth führt ein einziger Weg zum Zentrum und wieder heraus. Der Wandernde muss die grösstmögliche Strecke zurücklegen, ohne zweimal denselben Weg zu gehen. Als Irrgarten kommt dem Labyrinth eine andere Bedeutung zu. Er ist angelegt, um zu verwirren und Rätsel aufzugeben (z. B. mit Sackgassen).

Ornamentaler Schmuck

Aus dem klassischen ist das römische Labyrinth entstanden. Es wurde oft als symetrisches, dekoratives Mosaik in Bädern oder Villen ausgelegt.

Christliche Labyrinthe
Aus den römischen Labyrinthen sind die in vielen Kirchen auf dem Fussboden dargestellten Labyrinthe hervorgegangen. Dabei greifen sie seinen Sinn als Heilszeichen auf. Als ältestes gilt jenes in der Reparatus-Basilika im algerischen El Asnam von 324.

Im Zeichen des Kreuzes

In den Handschriften des Mittelalters wird das Kreuz in die Mitte des Bildes eingeschrieben. Das berühmteste Kirchenlabyrinth wurde um 1216 in der Kathedrale zu Chartres ausgelegt.

Wallfahrt nach Jerusalem

Die mit schwarzen und weissen Steinen auf den Boden gezeichneten Labyrinthe stellen das menschliche Leben mit seinen Schwierigkeiten dar. In der Mitte wartet das himmlische Jerusalem. Wer nicht ins Heilige Land pilgern konnte oder wollte, konnte hier die Fahrt nachvollziehen.

Weg zur Wirklichkeit

Der Weg durch das Labyrinth und aus ihm wieder heraus wird als Erlösungsweg verstanden, der zu unserem wahren Selbst führt. Denn darin liegt der Schlüssel: Der Weg ins Labyrinth ist zugleich der Weg, der uns daraus erlöst. Deshalb ist der Weg, auch wenn wir das oft glauben, kein Irrweg. Gerade dieser Weg ist unsere persönliche Lebensaufgabe. Die mittelalterlich-christlichen Labyrinthe zeigen diese Symbolhaftigkeit ganz deutlich: Es gibt keine Sackgassen, keine Wahlmöglichkeiten, keine Irrwege. Es gibt nur einen Weg für dieses Leben, in das wir hineingestellt sind, und nur eine Entscheidung, die wir zu treffen haben: den Weg unserer Lebenserfahrung selbst zu gehen und anzunehmen oder ihn zu verweigern.