Ein Volk von Bauern, Arbeitern und Direktoren
Vortrag von Walter Eigel anlässlich der General-versammlung des Einwohnervereins Oberarth am 28. März 1998
«Wenn man in der Geschichte der Eidgenossenschaft bis ins 12. Jahrhundert zurückblättert, so stösst man dabei auf viele Namen von geschichtsträchtigen Orten. Auch weniger bekannte Orte und Siedlungen werden erwähnt, die mithalfen, die noch junge Eidgenossenschaft aufzubauen und zu stärken.
Das damalige Oberdorf oder jetzige Oberarth wird dabei geschichtlich erstmals 1298 erwähnt, als König Albrecht, Herzog von Österreich, die Macht vom vorangehenden König Adolf von Nassau übernahm. Die Herrschaft hat “von denselben Hof ze Arta, darin die Dörfer und Siedlungen Arta, Oberdorf, Goldau, Buosingen, Gengigen und Röthen”, die Steuern und Abgaben eingetrieben. Später, nach der Vertreibung der Vögte, wurde die Talschaft zwischen Rigi und Rossberg zu einer Art Schutzschild für das Alte Land Schwyz gemacht. Dabei begünstigten die topographischen Verhältnisse an den Ufern des Zugersees das Errichten von Schutzbauten. Im Sonnen- und Schattenberg errichtete man Letzimauern und rammte Pfähle in den See. Eine zweite Letzimauer wurde in der Talenge vor dem Oberdorf gebaut. Ein Teil dieser Letzimauer ist bis heute in gutem Zustand erhalten geblieben und erinnert uns so an längst vergangene Zeiten.»
Aus der Einleitung zur Jubiläumsschrift
«50 Jahre Einwohnerverein Oberarth» 1996
Herr Präsident,
werte Damen und Herren,
Mitglieder des Einwohnervereins,
liebe Oberartherinnen und Oberarther,
Es ist für mich eine Ehre, anlässlich der Generalversammlung des Einwohnervereins Oberarth zu Euch sprechen zu dürfen. Der Vortrag gilt ja einem Jubiläum: 700 Jahre Oberarth. Ich danke dem Präsidenten, Kaspar Hürlimann, für die Einladung zu diesem Anlass. Ich will Euch in der folgenden halben Stunde nicht mit trockenen historischen Daten langweilen. Ich möchte einfach ein paar Rosinen aus dem Geburtstagskuchen, aus einer 700-jährigen Geschichte herauspicken. Ich will auch nicht als Fachmann zu Euch sprechen: weder als Pfarrer noch als Historiker. Einfach als Nachbar vom untern Dorf.
Oberarth findet sich zwar in der wenig beneidenswerten Lage, zwischen dem alten stolzen Arth und dem modernen aufstrebenden Goldau eine Art Aschenbrödel-Dasein zu fristen. Aber wie beim Aschenbrödel die Wahrheit ihres Wesens doch ans Licht kommt, so steht auch Oberarth schliesslich als strahlende und vom Prinzen begehrte Prinzessin da. Das möchte ich nun versuchen – um Ehre zu geben, wem Ehre gebührt.
Ich habe meinen Beitrag zwar nicht «Aschenbrödel» betitelt. Im Programm steht: «Oberarth: ein Volk von Bauern, Arbeitern und Direktoren». Damit will ich beileibe nicht insinuieren, dass Ihr da in einem Bauern- und Arbeiterparadies lebt. Es ist Euch auch nie versprochen worden. Solche Paradiese haben erfahrungsgemäss gar nicht so lange Bestand. Aber die drei Begriffe passen gar nicht so schlecht aufs Oberdorf; sie charakterisieren Euren langen Weg durch die Geschichte.
Herzliche Glückwünsche zum Geburtstag!
Oberarth macht sich daran, dieses Jahr seinen 700. Geburtstag zu feiern. Wie es bei sehr alten Leuten der Fall ist, lässt sich der genaue Geburtstermin nicht immer genau feststellen. Und so ist es auch in unserem Fall – trotz intensiven Suchens in unsern Dokumenten, Quellenwerken und gar im Staatsarchiv – die einschlägige Urkunde nicht zum Vorschein gekommen. Schriftlich belegt ist Oberarth – oder «Oberndorff», wie es früher genannt wurde – erstmals kurz nach 1300. Im Habsburger Urbar, einer Liste der weitverstreuten habsburgischen Güter und Lehen, die König Albrecht I. in den Jahren 1303-1309 erstellen liess, werden auch die Abgabepflichten von Höfen in Oberarth erwähnt. Dieser Albrecht aber wurde genau im September 1298 zum römischen König gekürt. Also: spätestens seit diesem Jahr sind die Oberarther der habsburgischen Krone steuerpflichtig. Mit andern Worten: Oberarth muss um 1298 bereits existiert haben. Und das sind heuer genau 700 Jahre her. Also: Man soll die Feste feiern, wie sie fallen. Daher: Herzliche Glückwünsche zum Geburtstag!
Oberarth ist älter als Arth
Wie Aschenbrödels Grösse und königlicher Adel verkannt wird, so ist es eben auch mit Oberarth. 1298 scheint natürlich nichts im Vergleich zur weit älteren schriftlichen Datierung, die das sog. Mutterdorf Arth betrifft. Bei uns unten rühmt man sich des Jahres 1036, für das ein schriftliches Dokument die Existenz eines Georgshofes bestätigt.
Aber Arth hat sich dessen nicht zu brüsten! Papier ist Papier, auch wenn es Pergament ist. Die Grundsubstanz des Arther Dorfes geht lediglich ins 18. Jahrhundert zurück. Es wurde nach dem verheerenden Dorfbrand von 1719 neu aufgebaut. Erst recht, aber nur umso tragischer, steht es mit Goldau. Es entstand erst nach 1806 auf den Trümmern des Bergsturzes. Oberarth weist im wesentlichen einen älteren Bestand auf als seine beiden Rivalen. Und à propos Bergsturz: Auch Oberarth kann einen aufweisen – und erst noch einen grösseren. Allerdings geht er in prähistorische Zeiten zurück; über Ausmass und Zeit können Geologen besser Auskunft geben als ich.
Aber auch wenn wir für das alte Arth das Jahr 1036 gelten lassen, so sind schriftliche Dokumente doch nur das eine. Die Altertumsforschung kennt nämlich nicht bloss schriftliche Zeugnisse. Es gibt da eine wissenschaftliche Zunft von Grüblern, die man Archäologen nennt. Ihre Arbeiten erlauben uns, weiter in die Vergangenheit zurückzugehen. Allerdings lässt sich dies nicht systematisch tun. Meist hängt es vom Zufall ab, wo wir zu graben und grübeln beginnen. Aber dann und wann stossen wir dann unter dem Boden plötzlich auf etwas, was uns aufhorchen lässt. So geschah es bei uns im Jahre 1820.
Damals wurde die Landstrasse von Arth nach Oberarth neu gemacht. Da stiess man beim ‘Frohsinn’, unterhalb der Felswand, bei Grabungen auf menschliche Skelette. Der Schwyzer Geschichtsschreiber Kommissar Fassbind meldet in seiner 1823 – kaum 3 Jahre nach dem Gräberfund – abgeschlossenen Religionsgeschichte des Kantons Schwyz, was man «beÿ Grabung der Neüen Strass 4 Schuh tief in der Erde gefunden hat. nemmlich eilf in grader Linie nebeinander liegende Menschen Körper, bej denen einem uralte Goldmünzen aus dem 9ten Jahrhundert».
Oberarth ist damit also bereits 150-200 Jahre vor Arth bezeugt. Seit Fassbinds Notiz sprechen wir von den Alemannengräbern von Oberarth. Ob hier eine frühe, evtl. sogar christliche Kultstätte gestanden hat, ist nicht eindeutig zu beweisen. Vielleicht war Oberarth auch der Mittelpunkt des habsburgischen Reichshofes. Aber eines wissen wir: Oberarth darf sein Licht nicht unter den Scheffel stellen. Oberarth ist älter als seine Rivalen unten und oben.
Ein Volk von Bauern
Wenn wir in die ältere Geschichte zurückgehen, so besteht Oberarth doch im wesentlichen aus Bauern. Zwar gab es bestimmt auch einige traditionelle Handwerker: Müller, Bäcker, Schneider, Schuhmacher, Hafner, Kaminfeger, Schreiner, Wagner, nicht zuletzt auch Schnapsbrenner. Aber der Grossteil waren Bauern. Das Habsburger Urbar von 1303-1309 nennt Güter im Bereich von Arth, Oberarth und Goldau, die der habsburgischen Krone abgabepflichtig waren. Und das haben sie ohne Murren getan – sie tun es heute noch, wenn auch nicht Habsburg, so doch dem eigenen Staat. Güter – das waren Höfe, Heimwesen, kleine Landgüter, die von den stolzen und freiheitsdurstigen Bauern bewirtschaftet wurden. Die ganze mittelalterliche Geschichte und Politik wird von diesen Bauern bestimmt. Sie betrieben Viehzucht, etwas Ackerbau, produzierten ihre eigene Nahrung: Milch, Käse, Butter, Ziger. Im Herbst trieben sie ihre Senten über den Gotthard auf die Märkte der ennetbirgischen Lande und von Mailand. Vieh-Export! Natürlich waren sie auch Krieger, nicht nur zur Verteidigung des eigenen Landes. Vor allem, als die Landwirtschaft die wachsende Bevölkerung nicht mehr genügend zu ernähren vermochte, boten sie als Reisläufer ihre Dienste fremden Herren an. Das war oft die einzige Alternative zum Betteln und Hungern. Und es stellte wahrlich eine einträgliche Verdienstquelle dar – vorausgesetzt, man kam heil aus den Schlachten nach Hause.
Ein Volk von Arbeitern
Das war bis ins späte 19. Jahrunderts so. Erst in den 1880er Jahren suchten Gemeindeväter sowie wirtschaftlich potente und progressive Bürger, im Arther Tal auch Industrie anzusiedeln. Die Fabrik entstand. Und so ist seither in Oberarth auch die Industrie beheimatet.
Seit etwa 1890 besteht die Seidenweberei. ‘Stehli-Seide’ war ein Markenbegriff; das Gebäude ein markanter Punkt im Talboden. Dieser Fabrik war ein wechselhaftes Geschick beschieden. Wohl nie fanden hier 600 Arbeiter Beschäftigung, wie dies ursprünglich vorgesehen war. Im Krisenjahr 1933 wurde sie zeitweilig stillgelegt. Einmal hat der Sturm das Dach abgedeckt, einmal der rote Hahn das Gebäude verheert. Es steht heute noch und hat in den 100 Jahren seiner Existenz viele Firmen beherbergt. Ein willkommener Arbeitgeber – schon damals. Wer nicht Bauer war, der konnte hier sein kärgliches Brot verdienen; Tagelöhner, Holzer und andere Saisonarbeiter fanden hier ein Einkommen. Vor allem für die weibliche Seite der Gesellschaft war es eine Möglichkeit, mitzuverdienen. Das war wohl die einzige Alternative zur Armut. Bildungsmöglichkeiten für Frauen nach der Volksschule gab es damals noch kaum. Erst die fortschreitende Industrialisierung und der wachsende Wohlstand eröffnete den Frauen den Zugang zur Bildung.
Interessant zu wissen ist auch, dass zu den grossen Förderern der Fabrik einer gehörte, der eigentlich nicht mit dem leiblichen, sondern mit dem seelischen Wohl seiner Kinder betraut war: Pfarrer Ziegler. Ihm ist es hoch anzurechnen, dass er schon früh erkannt hat, dass die Förderung der Frauenbildung über die wirtschaftliche Entwicklung läuft.
Dass die Fabrik auch einige Bedeutung für mein persönliches Leben hatte, will ich nicht verschweigen. Ohne Fabrik könnte ich heute wohl kaum vor Ihnen stehen. Mein Grossvater hat nämlich hier in dieser Fabrik damals um 1900 herum auch seine künftige Frau gefunden…
Oberarth ist mehr als nur ein Industriestandort. Oberarth ist ein Verkehrsknotenpunkt: allerdings ein verhinderter Verkehrsknotenpunkt. Da waren ja ursprünglich auf der Sonnenbergseite des Tales der grosse Bahnhof und die Zentralwerkstätten der Gotthard-bahn geplant. Und hier stand auch schon der wichtigste Bahnhof der Rigi-Bahn. Hier wechselte der Adhäsionsbetrieb der Talbahn in den Zahnradbetrieb der Bergbahn; hier wurden die rauchenden Dampfloks angespannt. 1897 wurde entschieden, dass die Gotthardbahn über den Scheitel des Schuttes geführt werde, der Bahnhof kam nach Goldau. Die Rigi-Bahn musste nachziehen, die Remisen mit der Schiebebrücke wurden 1882 abgebrochen und in Goldau wieder aufgebaut. So fand diese Oberarther Eisenbahnherrlichkeit ein jähes Ende. Sehr unglücklich darüber dürften heute die wenigsten von uns sein. Wäre dieses Projekt ausgeführt worden, so würde Oberarth wirklich diese berühmte «Urschwyzer Stadt am Zugersee» sein, wie es in einem deutschen Reiseführer aus neuester Zeit zu lesen ist. Aus dem verhinderten Verkehrsknotenpunkt entstanden aber zwei Dinge, die Geschichte machten: einmals der Gotthard-bahntunnel unter dem Bergsturz durch, der vorweg eingefallen ist, und der Tramtunnel, dem die Ehre zukommt, der höchste Bahntunnel Europas (oder gar der Welt) zu sein.
50 Jahre später fand gleich neben dem missglückten Bahnhof eine Industrie auch ihr abruptes Ende. Und zwar in einem einzigen Augenblick. Die Pulverfabrik (oder Feuerwerkfabrik) Hilfiker explodierte am 8. Juli 1948. Traurig vor allem, weil 9 Menschen bei diesem Unglück ihr Leben lassen mussten. Schwerverletzte gab es auch.
Auch sonst ist Oberarth ein explosiver oder gar blutiger Boden: abgesehen vom prähistorischen Bergsturz fiel hier der berüchtigt-berühmte Ital Reding, der ‘Eisenkopf von Greifensee’, einem Meuchelmord zum Opfer – dem wir allerdings das Kleinod der Reding-Kapelle verdanken. Und beim Guggähüürli oder unter der Linde, wie Karl Zay schreibt, fiel manches Haupt unter dem Henkerbeil.
Ein Volk von Direktoren
Die industrielle Entwicklung von Oberarth hat aber noch eine dritte Klasse von Leuten geschaffen, von denen es gerade einige gab. Was nützt die schönste Fabrik voller fleissiger Hände, wenn nicht Leute da sind, die dirigieren? Daher nennt man diese dritte Klasse von Leuten einfach Direktoren.
Aber wie es üblich ist in einer Mehrklassengesellschaft: man hütet seine Reviere. Der Obere mischt sich nicht gerne unter den Pöbel im Fabriksaal, sondern sitzt in einem feinen Büro. Er wird auch mit Herr Direktor angesprochen. Auch siedelt er gerne am Rand der Seinen, mit Vorliebe auch geographisch an erhöhter Stelle. Er nennt sein Daheim nicht einfach Haus, sondern Villa. Davon stehen noch mehr als eine im Bannkreis von Oberarth. Weder ihre Schwestern Arth noch Goldau können sich dessen rühmen. Meines Wissens steht die Rigi-Bahn-Direktoren-Villa unter der Harmettlen im Einzugsbreich Oberarth – oder zumindest ganz am Rand.
Beizufügen wäre im Zeitalter des unsinkbaren Titanic-Filmes, dass eine der Stehli-Frauen mit der echten Titanic im Atlantik untergegangen ist.
Immerhin sorgten sich die Direktoren auch ums Wohl ihrer Untergebenen. 1933 lesen wir: «Die Arbeiter-Wohnkolonie in Oberarth mit ihren niedrigen Mietzinsen sind besonders in dieser Krisenzeit eine Stütze für manchen Haushalt. Eine beträchtliche Anzahl von Familien aus dem Personal können unentgeltlich den unverbauten Grundbesitz der Firma als Pflanzland benützen und auch diese Äcker mit Gemüse erfüllen, besonders jetzt ihren Zweck. Wir hatten eine Badeeinrichtung in der Fabrik, erhielten kostenlos Leihbücher der Volksbibliothek, die Krippe nahm die Kinder auf, und dann die wunderschönen Weihnachtsbescherungen mit den Paketen und vollen Tüten!»
Arbeiter-Wohnkolonie! Ja, das sind die Kosthäuser: günstiger Wohnraum für das Farbrikarbeitervolk. Ihr heutiges Aussehen verrät zwar kaum mehr ihren ursprünglichen Zweck. Und inzwischen ist dieses Gebiet über der Mühlefluo zu einem Villenquartier geworden. Nicht erst heute, auch schon damals sind aus dieser Fabrikarbeitersiedlung hochinteressante Leute hervorgegangen, z.B. Literaten wie eine Maria Ulrich und sogar Präsidenten… Die Entwicklung macht auch unterhalb der Mühlefluo nicht Halt. Hier stehen die einzigen Wolkenkratzer der Gemeinde, welche dem kleinen Dorf einen Hauch von Manhattan verleihen. Auch der Kirschduft ist nicht ferne. Wahrhaft eine edle Mischung!
Ein ‘ökumenisches’ Dorf
Oberarth vereinigte – in mehr oder weniger Harmonie – drei Klassen von Leuten: Bauern, Arbeiter und Direktoren. Diese Klassengesellschaft ist heute gottseidank überholt. Oberarth wusste es schon immer – wohl besser als Arth und Goldau – Gegensätze zu vereinen. Oberarth hat Gemeinschaftssinn. Das zeigt sich nicht nur an den vielen Festen und Anlässen, die ihren eigenen, unverwechselbaren Charakter haben. Oberarth bot auch Hand zu ökumenischer Gemeinsamkeit. Ökumene heisst ja ‘Heimführung’, ‘Zusammenführung’. Darin ist Oberarth Pionier. Ihr dürft Euch rühmen, nach Brunnen die zweite protestantische Kirche im Kanton Schwyz zu besitzen. Sie wurde 1902-1904 im neugotischen Stil erbaut, an einer der prominentesten Stellen des Tales, hoch oben auf dem Felssporn. Es ist, als ob sie den Arther und den Goldauern die Hände entgegenstreckt und so verbindet. In ökumenischer Partnerschaft teilen die Oberarther auch dieses Gotteshaus, wenn z.B. die Feuerwehr am Agathatag ihr Patronatsfest oder der Einwohnerverein das Kirchweihfest feiert.
Gleich gegenüber steht die altehrwürdige Marienkapelle. In älteren Zeiten stand sie oben bei der Mühle, aber der reissende Aa-Bach hat ihr zu oft und zu arg zugesetzt, so dass sie Mitte des 18. Jahrhunderts an die jetzige Stelle verlegt wurde. Die ursprüngliche Kapelle wurde an der Stelle erbaut, wo 1466 der bereits erwähnte Ital Reding ermordet worden war. Der Weihbischof von Konstanz hat sie am 18. April 1469 konsekriert, als er auf dem Weg in den Ranft war, das Wunderfasten des Bruder Klaus zu prüfen.
Natürlich können sich diese beiden Kirchen nicht mit der frühbarocken Pracht der Arther Pfarrkirche messen. Aber Oberarth hat etwas mehr als die Arther und Goldauer, nämlich den Herrgott selber: den «Grossen Herrgott von Oberarth». Unten am Felsband an der Strasse, gleich nebem alten Türli, stand in einer offenen Kapelle ein grosses Kruzifix aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts, das für das ganze Tal ein eigentliches Heiligtum war. Jedermann zog beim Vorbeigehen den Hut. Selbst der ewige Jude soll hier vorbeigezogen und seine Mütze gezogen haben. Auf dem Gemälde über dem Portal der Georgskapelle steht geschrieben, dass es bis zum «Grossen Herrgott von Oberarth» 1342 Schuh seien, die dann in die 14 Stationen des Kreuzweges eingeteilt waren. Dieses Kapellchen ist 1930 Opfer des modernen Verkehrs geworden und musste einer Strassenkorrektion weichen.
Gotthardbahn hin oder her, Oberarth ist der grosse Kreuzungspunkt zwischen den verschiedenen Gemeindeteilen geblieben: hier, beim Türli, treffen sich die Wege, die zueinander führen: der alte Pilgerweg, die Hauptstrasse von Arth, der Weg in den Sonnenberg und auf die Rigi, die Strasse nach Goldau, von der dann etwas weiter oben im Dorf die Strasse nach Steinerberg-Einsiedeln abzweigt.
Hier stehen wir aber auch an strategisch wichtiger Stelle. Zwischen den beiden Fluhbändern, die sich von der Rigi und vom Rossberg ins Tal ziehen, klafft eine kleine Lücke von nur 300 Metern. Kein Wunder, dass hier in diese Talenge hinein unsere Vorfahren im 14. Jahrhundert die zweite Verteidigungslinie des Alten Landes Schwyz gebaut haben. Die Letzi von Oberarth ist nach Auskunft von Fachleuten zurzeit noch immer die besterhaltene Befestigungsanlage aus der Zeit der Urschweizer Befreiungskriege, und daher von nationaler Bedeutung!
Nicht zu vergessen, dass im Aabach beim Schmidlin-Rank an der Bergstrasse auch die geologische Nahtstelle zwischen Rigi und Rossberg liegt. In Oberarth spricht man nicht mehr von Sonnenberg und Schattenberg. Oberarth verbindet. Oberarth ist ein ökumenisches Dorf.
Ein Dorf mit Gefühlsgrenzen
Wisst Ihr überhaupt, dass Oberarth eine Enklave besitzt? Ja! Der Schiessstand ist eine Oberarther Enklave im Arther Banngebiet. Die mehrbesseren Herren von Arth wollten um die Jahrhundertwende nicht mehr auf demselben Boden auf dem Bauch liegen und ihr Gewehr abdrücken wie die weniger edlen, eben nicht ebenbürtigen Schützenkollegen einfacherer Herkunft. Daher blieben erstere im Arther Schützenhaus unter sich, während die andern im Mühlemoos ihre Schiesspflicht erfüllten. Immerhin, sie schiessen seither den Arthern über die Köpfe hinweg.
Die Gegend um den Schiessstand war aber schon zu früheren Zeiten etwas Sonderbares. Dort hat sich Gesinde herumgetrieben, das den puritanischen Arthern sowie der politischen und kirchlichen Obrig-keit nicht so in den Kram passte und daher eben am liebsten Oberarth zugeschanzt wurde. Ich meine die Hummler oder Nikodemiten, jene religiösen Neuerer, die in der 1. Hälfte des 17. Jahrhunderts so viel von sich reden machten, von denen die meisten 1655 nach Zürich geflohen sind, einige aber in Schwyz am Galgen endeten. Berichtet wird, dass eine der zum Tode Verurteilten, Barbara von Hospenthal, auf dem Weg nach Schwyz in Oberarth einer Schar Kinder begegnet ist, die ihr Mitleid bezeugten. Sie habe ihnen freundlich zugesprochen: «Ihr meine lieben Kinder, das ist der rechte Weg in das ewig Leben!»
Ueberhaupt sind die Grenzen zwischen Arth und Oberarth – ausser postalisch – nicht so genau fixiert. Es handelt sich hier eher um Gefühlsgrenzen. Aber das Gefühl ist bei den Oberarthern untrüglich. Es motiviert sie dazu, ihre eigene, unverwechselbare Identität auszubilden. Wenn am Abend vor einer Beerdigung beim Fürbittgebet die Arther Pfarrkirche voll ist, dann handelt es sich beim anderntags zu Beerdigenden bestimmt um einen Oberarther oder eine Oberartherin. Die halten zusammen – bis in den Tod!
Oberarth hat sich in aller Stille eine eigene Identität geschaffen, ist eine eigenständige Grösse zwischen Arth und Goldau geworden. Oberarth ist heute eine ernstzunehmende Grösse. Die 700 Jahre Eurer Dorfgeschichte verpflichten Euch dazu; Eure Nachbarn unten und oben haben sie zu akzeptieren auf dem gemeinsamen Weg ins 8. Jahrhundert Eurer Existenz. Dazu wünsche ich Euch und allen Euren Nachkommen Gottes Segen.
Walter Eigel