Tripp-trapp Resli

Eine Geschichte vom Rigiberg

Von Luzern nach Weggis rauscht der stolze Raddampfer, wirft schäumende Wellen und trägt zahlreiche Sommergäste über den Vierwaldstättersee. Die meisten Passagiere wollen auf die Rigi. Schon jetzt sehen sie den stolzen Berg steil aufragen. Wie werden sie wohl mit all ihrem Gepäck hinaufkommen? Doch keine Angst! Dafür ist gesorgt.

Am Schiffsteg wartet schon eine Schar Männer mit kräftigen Pferden auf die Reisenden. Jeder der Ankommenden sucht sich das Pferd aus, das ihm am Besten gefällt und bald sind alle beladen und am Aufbruch. Nur einer wartet noch mit traurigem Gesicht, der jüngste von allen Pferdebesitzern, der Tripp-trapp Resli. Er hat ein altes Pferd und selbst die vier blankgeputzten Glöckchen an seinem Hals locken niemanden.

Schon will Resli sich auf den Heimweg machen, als noch ein Herr kommt und ihn fragt, ob er sein Töchterchen ins Hotel auf den Berg hinaufbringen könne. Er selbst müsse in die Stadt zurück. Da macht Resli einen Luftsprung vor Freude. Nun hat er doch noch Arbeit gefunden und kann von dem verdienten Geld für die Mutter einkaufen. Schnell hilft er Lisette, so heisst das Mädchen, in den Sattel. Tripp-trapp gehts nun bergauf. Tripp-trapp vorbei an schönen Bauernhäuser, tripp-trapp vorbei an gackernden Hühnern und meckernden Ziegen. Es duftet abwechselnd vom Harz der Tannen am Wegrand und vom frischen Heu der Wiesen, auf denen die Kühe friedlich weiden. Ihre Glocken erfüllen die ganze Gegend mit dem schönsten Geläute. Resli jedoch sieht besorgt, dass sein altes Pferd kaum mehr steigen kann. Wird es wohl durchhalten?

Längst ist Lisette vom Pferd abgestiegen und hilft es antreiben und stossen. Endlich erreichen sie die wackelige Holzbrücke beim Felsentor, aber das ist noch nicht die letzte Steigung. Lisette ist traurig für das arme alte Pferd. Jeder Schritt fällt ihm so schwer. Zum Glück ist es nun nicht mehr weit bis zum Haus von Reslis Mutter.

Nun haben sie es geschafft. Reslis Mutter freut sich, dass ihr Sohn einen Gast hinaufführen darf. Das Pferd aber wird sofort in den Stall geführt, denn es kann vor Schwäche nicht mehr auf den Beinen stehen. Ganz erschöpft legt es sich nieder. Wird es sich wohl wieder erholen? Und wenn es nicht wieder aufstehen kann? Wie kommt Lisette dann mit ihren leichten Stadtschuhen das letzte steile Stück hinauf? Das Abendbrot gibt ihnen neuen Mut. Auf dem Tisch steht knuspriges Brot und Milch und Butter, und alle greifen zu. Bläss, der Hund, und Zizi, die Katze, schauen gierig bis zum Tisch hinauf. Bleibt wohl etwas für sie übrig? Draussen aber verschwindet plötzlich die Sonne, und Gewitterwolken ziehen auf. Wie soll Resli das Mädchen hinaufbringen? Da fällt ihm das Traggestell im Stall ein. Er holt es und lässt Lisette aufsitzen.

Resli will oben sein, bevor das Gewitter ausbricht, aber die Last ist schwer. Bläss läuft voraus und zeigt den Weg. Doch es wird immer dunkler, und die Gewitterwolken drohen nah über dem Berg. Aufgescheuchte Bergraben krächzen und alle Tiere suchen ängstlich einen Unterschlupf. Die Kühe suchen Schutz unter den Tannen. Ein gewaltiger Gewittersturm fegt über den Berg. Die Nacht bricht herein, und nur die Blitze beleuchten schnell wechselnd die Gegend. Der Donner tönt immer näher, und Lisette fürchtet sich. Wären sie nur schon oben, denkt sie. Dicke Regentropfen fallen herab, und Resli sucht am Weg in einer Hütte Schutz. Er deckt Lisette mit seinem Mantel zu.

In ihrer Kammer liegt Reslis Mutter und hat Angst um die Kinder. Ob sie wohl schon oben beim Hotel angelangt sind? Denkt Resli wohl daran, dass er nicht unter einer Wettertanne Schutz suchen darf? Grelle Blitze machen für Augenblicke die Kammer hell. Immer mehr sorgt sich die Mutter um Resli und seinen Schützling. Sogar das Kätzchen Zizi verkriecht sich vor den ständigen Blitzen unters Bett.

Endlich ist das Gewitter vorüber. Am Himmel funkeln wieder die Sterne, und die beiden sind im Hotel angekommen. Lisettes Mutter ist glücklich, dass ihre Tochter endlich wieder da ist. Lisette nimmt von Resli Abschied und dankt ihm, dass er so gut für sie gesorgt hat. Er bekommt einen reichlichen Lohn. Wie wird sich die Mutter darüber freuen! Aber dann denkt er an sein Pferd. Wenn es stirbt, muss er wieder mit dem Tragseil das schwere Gepäck der Gäste tragen. Das arme Pferd liegt im Stroh und atmet schwer. Seine letzte Stunde ist gekommen. Geld für ein neues Pferd haben sie nicht. Die Not bei ihnen wird nun gross sein.

Eines Tages aber, ein paar Wochen später, ist am Schiffsteg grosse Aufregung. Ein kräftiger Schimmel wird aus dem Schiff geführt, und der ist für den Resli. Lisettes Vater hat ihn geschickt. Und nun bricht eine so gute Zeit für Resli an, dass die anderen Träger beinahe neidisch werden.

Alle Gäste wollen von nun an mit dem prächtigen Schimmel reiten. Einen neuen Tragsattel hat Resli auch. Manchmal reiten sogar zwei Leute auf dem breiten Sattel, so stark ist Reslis Schimmel.

Moritz Kennel, Tripp-trapp Resli. Eine Geschichte vom Rigiberg, Zürich 1971.

Siehe auch:

11.12.2023: Ein Buch wird lebendig