Kapitel X aus dem Buch “Der Goldauer Bergsturz” von Josef Niklaus Zehnder
Verlag Stiftungsrat Bergsturzmuseum Goldau 1974
Der Rigi-Tourismus und namentlich der Bau der ARB haben also das neue GoIdau gleichsam aus der Taufe gehoben. Doch wenn seit 1806 über den Trümmern des Bergsturzes eine der stattlichsten Siedlungen des Kantons Schwyz entstehen konnte, so ist das dem Umstand zuzuschreiben, dass Goldau in der zweiten Hälfte des bahnfreudigen 19. Jahrhunderts Station der völkerverbindenden Gotthardbahn und dann einer der bedeutendsten Eisenbahnknotenpunkte unseres Landes wurde, an dem Schienenstränge aus allen Windrichtungen zusammentreffen. Tatsächlich figuriert das Wort Goldau in der Kombination Arth-Goldau heute in den Fahrplänen der meisten europäischen Länder, und ein Weltenbummler kann es in direkten Wagen internationaler Züge von Rom, Triest, Venedig, Ancona, Mailand, Ventimiglia, Livorno, Genua, München, Stuttgart, Nürnberg, Bonn, Frankfurt, Hamburg, Kopenhagen, Brüssel, Amsterdam, Calais, Dünkirchen, Ostende und andern wichtigen Orten her ohne Umsteigen erreichen. Diese Weltverbundenheit erfüllt die heutigen Goldauer mit berechtigtem Stolz, und doch ist hier die Bemerkung am Platz, dass es beinahe anders herausgekommen wäre, denn es stand weder am Anfang des Eisenbahnzeitalters noch bei Beginn des Baues der Gotthardbahn irgendwo geschrieben, dass Goldau einmal einen Bahnhof erhalten würde!
Zuerst ein paar Worte über die Entstehung des Gotthardunternehmens. Bereits neun Jahre bevor elf weitsichtige Arther Bürger als kühne Pioniere des modernen Fremdenverkehrs ein Konzessionsgesuch für den Bau der Arth-Rigi-Bahn einreichten, war 1860 im Schweizerland als provisorischer Abschluss vieljähriger Bemühungen und Planungen ein Aktionskomitee für den Bau einer zentralen Alpenhahn durch den St. Gotthard gegründet worden. Nicht alle Teile der Schweiz waren für dieses Projekt Feuer und Flamme, sondern es gab im Gegenteil Kreise, die eine Alpenbahn entweder östlich oder westlich vom St. Gotthard befürworteten, so dass das Gotthardprojekt erst 1869 Wirklichkeit anzunehmen begann, als sich Italien und der Norddeutsche Bund zu seinen Gunsten geäussert hatten.
Aber damit waren die Würfel noch lange nicht für Goldau gefallen!
Es musste tatsächlich nach 1869 noch mancher Föhn durchs Tal zwischen Rigi und Rossberg brausen, bis man sich über den Verlauf der Linie zu einigen vermochte. Das erste Projekt sah eine Linienführung von Immensee in den Artherboden hinunter und eine Station Arth hinter dem grossen Fabrikgebäude in Oberarth vor. Von dort weg war ein 2 l/2 km langer Tunnel unter dem Bergsturzgebiet hindurch geplant, und zwar sollte die Wasserscheide zwischen Zuger- und Lauerzersee so tief untertunnelt werden, dass man, um den Folgen eines neuen Bergsturzes zu entgehen, noch unter dem Schutt des Rossbergs im festen Gebirge geblieben wäre. Diese Bahnlinie hätte den Tunnel bei Röthen knapp über dem Niveau des Lauerzersees verlassen, und die Station Steinen wäre in den Winkel zwischen Strasse und See-Ende, d. h. bedeutend nordwestlicher als die heutige, zu stehen gekommen.
Nach dem Bauprogramm vom 16. Juli 1875 hätte die Herstellung des Richtstollens für den Goldauer Tunnel etwa vier Jahre erfordert, während für die Vollendung der Linie ein weiteres Baujahr in Aussicht genommen war. Für die Ventilierung waren etwa in der Mitte des Tunnels (beim heutigen Restaurant Schützenhaus) ein Hauptschacht von 86 m Tiefe und zwischen diesem und dem südlichen Tunneleingang noch zwei kleinere Schächte vorgesehen. Am 24. August 1875 wurde mit dem Vortrieb von Oberarth her begonnen, nachdem man bereits Mitte Juli die Grabarbeiten an den drei Schächten aufgenommen hatte. Der südlichste Schacht wurde 15 m tief gegraben, worauf in beiden Richtungen der Tunnelvortrieb erfolgte. Auf dieser (südlichen) Seite erreichte der Stollen 142 m, von der Oberarther Seite her sogar 181 m. Der mittlere Schacht, der in ungefähr 40 m Tiefe auf die Bahnlinie gestossen wäre, wurde 34 m vorgetrieben, während der Wauptschacht von den geplanten 86 m Tiefe eine solche von 40 m bekam.
Man ersieht aus diesen paar Angaben, die wir einem im Gotthardarchiv der Kreisdirektion 11 der SBB in Luzern aufbewahrten Längenprofil mit Darstellung des Fortschritts in den Bohrarbeiten entnommen haben, dass der Goldauer Tunnel beinahe Wirklichkeit geworden und Goldau unbedeutend geblieben wäre, wenn dann nicht eine Finanzkrise des Gotthardunternehmens der Sache eine ganz andere Wendung gegeben hätte, so dass einmal mehr der Beweis vorliegt, wie aus Schlimmem etwas Gutes hervorgehen kann! Als sich nämlich die Kassen der Gotthardbahngesellschaft in beängstigender Weise leerten und ersichtlich wurde, dass man sich im Voranschlag um etwa 100 Millionen damaliger Schweizerfranken getäuscht hatte, wurden am 15. Mai 1876 die Arbeiten am Goldauer Tunnel eingestellt. Dasselbe Schicksal betraf damals die Bauten am Wattinger und Rohrbach-Naxberger Tunnel. Die Einstellung der Arbeiten wurde am 24. Mai durch einen vom damaligen Bundespräsidenten Welti, dem tatkräftigen Förderer des Gotthardunternehmens, unterzeichneten Brief an die Direktion der Gesellschaft bestätigt.
Nun blieb das Goldauer Tunnelprojekt ein ganzes Jahr lang in der Schwebe. Die im Juni 1877 in Luzern abgehaltene internationale Konferenz genehmigte ein inzwischen von der Gotthardbahn ausgearbeitetes Sparprogramm, das sich u. a. vorerst mit einer einspurigen Linie begnügte und vorderhand auf den Bau der Strecken Immensee – Küssnacht – Luzern sowie Goldau – Zug verzichtete. In bezug auf den Goldauer Tunnel wurde beschlossen, es dem Bundesrat zu überlassen, ob er ein- oder zweispurig auszubauen sei.
Am 23. Juli 1877 fasste die Direktion der Gotthardbahn den Entschluss, eine Expertise zur Untersuchung der Frage anzuordnen, ob sich beim Bau der Stammlinie Immensee – Pino nicht noch mehr Ersparnisse als die auf der Luzerner Konferenz in Aussicht gestellten erzielen liessen. Dieses Gutachten wurde von Baudirektor Presse1 aus Wien ausgearbeitet. Obwohl Pressels neue Pläne nur teilweise verwirklicht wurden, so verdienen sie in einer Darstelung der Entwicklung Goldaus trotzdem grösste Aufmerksamkeit. Pressel schlug nämlich vor, nach Immensee die Linie nicht in den Arther boden hinunter, sondern erhöht, der Rigilehne entlang, auf das Niveau des heutigen Bahnhofs Goldau und von da in weitem Bogen nach Lauerz zu nehmen, womit der Goldauer Tunnel überflüssig geworden wäre. In diesem Vorschlag war der Anschluss der Zuger Linie, die zwar erst später ausgeführt werden sollte, in Lauerz vorgesehen, so dass dann dieses verträumte Dörfchen sich anstelle von Goldau zum Eisenbahnknotenpunkt entwickelt hätte. Man begreift, dass die Lauerzer damals in bester Stimmung waren, was u. a. dadurch zum Ausdruck kam, dass sie am Ottenfelsen eine Fahne hissten, deren Erscheinen bei den Einwohnern von Steinen natürlich nicht gerade Morgartenstimmung hervorrief! Mit der Linienführung über Lauerz wollte Presse1 erhebliche Einsparungen erzielen. Sein Gutachten trägt das Datum vom 8. September 1877.
Pressels Vorschläge wurden nun ihrerseits einer Begutachtung des technischen Zentralbüros der Gotthardbahn unterzogen. Dieses im Februar 1878 erschienene Schriftstück, das auch die Möglichkeit der Durchtunnelung der Bernerhöhe kurz streift, weist nach, dass sich die von Presse1 errechneten Einsparungen nicht so hoch belaufen, ja dass die Presselsche Variante infolge Erhöhung der Kosten für die Zufahrtslinie von Zug, deren Einmündung ja in Lauerz geplant war, im Gesamtprojekte noch mehr gekostet hätte. Eine Rolle bei der Ablehnung einer Linie über Lauerz spielte auch der Umstand, dass die Gotthardbahn sich dem Kanton Schwyz gegenüber schon 1870 verpflichtet hatte, in Steinen eine Haltestelle zu errichten. Schliesslich wurde noch darauf hingewiesen, dass der Vollendung des Goldauer Tunnels keine unüberwindbaren Schwierigkeiten entgegenstünden.
Man dachte also bei Zurückweisung von Pressels Lauerzer Variante immer noch an die Möglichkeit, die 1876 am Goldauer Tunnel eingestellten Arbeiten weiterzuführen! Jedoch nur noch kurze Zeit, denn am 18. Juni 1878 beauftragte die Gotthardbahn Ingenieur Hellwag, den Bau einer offenen Linie über Goldau – Steinen zu studieren, wobei man von Immensee bis Goldau die von Presse1 vorgeschlagene Linie der Rigilehne entlang voraussetzte. In Hellwags Gutachten vom 24. August 1878 heisst es, eine Lininführung durch den Schutt würde diesen in seiner wildesten und groteskesten Partie überschreiten und die Arbeiten würden hier auf beträchtliche Schwierigkeiten stossen; da jedoch der Schutt konsolidiert und der Terrainabschnitt vom Bergsturz bis zum Talboden bei Steinen, weil aus Moränenpartien bestehend, günstiger wäre als das Molassegebiet bei Lauerz, so sei diese Linie einer solchen über Lauerz vorzuziehen. Nun wurde der Lauerzer Plan abgeschrieben und etwa um die Jahreswende 1878/79 auch der Gedanke an den Goldauer Tunnel endgültig aufgegeben. Zwei Gründe waren dabei massgebend. Erstens einmal war der Tunnel eine teure Sache. Zweitens – und dieser Grund ist für die Goldauer nicht gerade trostreich – war man zum Schluss gekommen, dass die Absicht, mit einem 2500 m langen Tunnel den Folgen eines neuen Bergsturzes zu entgehen, sich nicht vollkommen verwirklichen liesse, “weil jene Partien des Rossbergs, welche nach Ansicht der Geologen in Zeiträumen von einigen hundert Jahren abermals ähnliche Katastrophen verursachen dürften, das südliche Ende eines solchen Tunnels weit überragen und dann doch eine Ueberschüttung der Bahn stattfinden müsste.” Eine Verlängerung des Tunnels um mehr als 1000 m wollte man auch nicht ins Auge fassen, da dies rund 2 1/2 Millionen Franken mehr verschlungen hätte, dieweil das Motto aller jener Projektstudien “Sparen” hiess.
Man konnte sich letztlich zur offenen Linienführung über die Wasserscheide um so leichter entscheiden, als die Leistungsfähigkeit der Bahn durch den Bau der zwei nun notwendig werdenden Rampen nicht verringert wurde und für die Anlage eines grössern Bahnhofs zur Aufnahme der geplanten Zufahrtslinie von Zug her auf dem Goldauer Plateau nach Abtragung von etlichen Trümmerhügeln hinreichend Platz vorhanden war. So bekam denn also Goldau – und nicht Oberarth – einen Bahnhof an der Gotthardbahn, hingegen erhielt dieser, da er auf dem Boden der Gemeinde Arth steht, schliesslich den Namen Arth-Goldau. Der erste Bahnhof stand beim Südeingang in die Unterführung des neuen Bahnhofs. Seine Anlage bedingte, wie im vorigen Kapitel erwähnt, eine kleine Aenderung in der Linienführung der ARB, die also fortan, bis zum Bau des heutigen Bahnhofs, an der Gotthardstation abgefertigt wurde. Mit der Schaffung des Berührungspunktes von Gotthard- und Arth-Rigi-Bahn war der künftige Eisenbahnknotenpunkt im Keim vorhanden. In einem Vertrag zwischen GB und ARB verpflichtete sich diese, ihre Strecke von Arth bis Goldau nun das ganze Jahr hindurch täglich in beiden Richtungen mit drei Zügen zu befahren. Zur Bereinigung der gegenseitigen Ansprüche bedurfte es übrigens, da sich die Parteien nicht gütlich verständigen konnten, eines Schiedsspruches von Bundesrat Welti, dem zufolge die ARB für die Verlegung ihrer Talstation von Oberarth nach Goldau eine Entschädigung von 60 000 Franken zugesprochen erhielt. Damit wurde auch die von der Gemeinde Arth als Ausgleich für den Ausfall der Station Arth verlangte Errichtung einer Haltestelle zwischen Immensee und Goldau hinfällig, und die Gemeinde hatte sich hinsichtlich des Betriebs der Strecke von Arth bis Goldau mit der ARB zu verständigen. – Der Bau der Gotthardbahn und deren Eröffnung im Jahre 1882 hatten Goldaus Bedeutung erhöht, doch setzte das eigentliche Wachstum, wie wir noch sehen werden, erst Ende des Jahrhunderts ein. Aus einer Artikelserie von Dr. Rickenbacher, die sich mit Goldaus Entwicklung befasst, heben wir in bezug auf das Jahr 1882 folgende Bemerkung heraus: “Freilich knallte damit (d. h. mit der Eröffnung der Gotthardbahn) auch die Peitsche des letzten Postillons von Arth nach Schwyz, welcher in Goldau beim Rössli seine Postablage hatte, zum letzten Male.”
Der weitere Ausbau liess nicht lange auf sich warten. Zwar verzichtete man vorerst aus finanziellen Gründen noch auf die Anschlusslinie nach Zug, wie ja auch der Bau der Strecke Immensee – Küssnacht – Luzern noch unterblieb, so dass die Gotthardbahn ab Immensee bis Rotkreuz das Gleis der Aargauischen Südbahn und von dort dasjenige der Nordostbahn benutzen musste, um nach Luzern zu gelangen. Doch die Entwicklung war unaufhaltbar. Das Jahr 1891 brachte den Schienenstrang der Südostbahn nach Goldau. Diese war kurz zuvor aus der Fusion der Wädenswil-Einsiedeln-Bahn mit der Zürichsee-Gotthardbahngesellschaft und dem Initiativkomitee für den Bau einer Bahn von Biberbrücke nach Goldau und demjenigen für den Bau einer Bahn von Pfäffikon nach Samstagern hervorgegangen. Auch bei der Südostbahn stand es nicht von Anfang an in den Sternen, dass Goldau ihr Endpunkt im Alten Lande Schwyz sein würde, denn in der ersten Konzession der Zürichsee-Gotthardbahn war eine Linienführung vorgesehen, bei welcher der Anschluss an die Gotthardbahn bei der Brücke über die Muota, zwischen Schwyz und Brunnen, vollzogen worden wäre. Von einem Anschluss in Goldau konnte damals natürlich keine Rede sein, da man ja noch mit dem Rossbergtunnel rechnete. Doch nachdem der Bahnhof in Goldau Wirklichkeit geworden und hier ein Initiativkomitee für den Bau einer Bahn von Goldau nach Biberbrücke entstanden war, wurde am Ende beschlossen, die Linie von Sattel nach Goldau zu führen. Die ersten in Goldau eintreffenden Züge der SOB brachten noch vor der offiziellen Eröffnung (am 8. August 1891) die Bewohner der äussern Bezirke an die Bundesfeier in Schwyz aus Anlass des 600-jährigen Bestehens der Eidgenossenschaft. Nach Vollendung der Rickenbahn (1910) und der Bodensee-Toggenburg-Bahn (1912) entstand eine Direktverbindung zwischen Ost- und Zentralschweiz über Goldau, die in den fünfziger Jahren durch Führung durchgehender Wagen von Luzern bis nach Romanshorn noch wesentlich besser ausgebaut worden ist.
Vor der Durchtunnelung des Albis spielte die Südostbahn eine grosse Rolle als Bindeglied zwischen Zürich und der Gotthardbahn. So wurde im Sommer 1894 ein gut frequentierter Frühschnellzug ab Zürich-Enge über Wädenswil nach Goldau eingeführt, der hier Anschluss an die Gotthard- und Arth-Rigi-Bahn hatte, jedoch mit Eröffnung der Strecke ThalwiI – Zug – Goldau wieder einging. Der schwerste Rückschlag betraf die SOB damals im Güterverkehr. Um die neue Linie über Thalwil – Zug zu konkurrenzieren, prüfte nun die SOB die Möglichkeit, direkte Personenwagen von Luzern über Goldau nach Chur zu führen, was aber am Widerspruch der Nordostbahn scheiterte.
Im Eisenbahnjahr 1897 (Verstaatlichung der Bahnen) war es dann so weit, dass die Gotthardbahn ihre von Anfang an geplanten Linien von Immensee über Küssnacht nach Luzern und von Goldau über Zug nach Thalwil eröffnen konnte, womit die Säuliamtlinie an Bedeutung verlor. Eine so gewaltige Verkehrskonzentration bedingte den Bau des neuen Goldauer Keilbahnhofs, dessen Gebäude sich seither äusserlich noch zweimal ein wenig verändert hat, namentlich nach dem Dachstockbrand von 1947, als die Türmchen und Aufbauten verschwanden. In der Nacht vom 4. auf den 5. Mai 1897 zog man vom alten in den neuen Bahnhof um. Der alte Bahnhof wurde in der Folge abgerissen und weiter rückwärts aufgestellt, wo man ihn heute noch als Dienstgebäude verwendet. Ein denkwürdiger Tag für Goldau war der 1. Juni 1897, an dem der grosse Bahnhof und gleichzeitig die neuen Linien offiziell dem Betrieb übergeben wurden. Mit Eröffnung der Zürcher Linie ging der Dampfschiffverkehr auf dem Zugersee gewaltig zurück, was auch einen Rückschlag für Arth bedeutete. Die Arther mussten übrigens bei dieser Gelegenheit eine zweite schmerzliche Schmälerung ihrer Lokalinteressen in Kauf nehmen, indem ihnen nun auch eine Haltestelle am Sonnenberg, zwischen Goldau und Walchwil, verweigert wurde, wofür sie 1904 von der Gotthardbahn eine Abfindungssumme von 70 000 Franken erhielten, mit der vertraglichen Verpflichtung, dieses Geld ausschliesslich für die Verbesserung der Verkehrsverhältnisse zwischen Arth und Goldau aufzuwenden.
Durch den Bau des neuen Bahnhofs, auf dessen Vorplatz sich früher ein Bergsturzweiher befand, wurde die Zweiteilung von Goldau, die vorher durch einen Niveauübergang beim alten Bahnhof etwas behoben war, zur vollendeten Tatsache. Die alte Gemeindestrasse von der Kapelle am Pfrundhaus vorbei durchs Oberdorf und über das heutige Bahnhofareal am heutigen Hotel Union vorbei ins Hinterdorf musste in weitem Bogen unter den Gleisen hindurch verlegt werden. Der Ausbau der Bahnhofunterführung im Jahre 1953 hat die beiden getrennt wachsenden Dorfteile einander wieder nähergebracht. 1897 wurde auch die Bahnhofstrasse eröffnet.
Wie sehr diese Epoche der definitiven Regelung der Bahnverhältnisse für das wachsende Goldau von Bedeutung war, geht aus der Tatsache hervor, dass das Dorf 1888 nur seine 380, im Jahre 1900 jedoch schon 1600 Einwohner zählte. In dieser Zeit wurde in Goldau viel gebaut. Allerdings blieben die Hoffnungen jener Spekulanten, die da meinten, Goldau würde nun rasch zu einer Stadt heranwachsen, unerfüllt. In der schon erwähnten Chronik Dr. Rickenbachers heisst es diesbezüglich: “Dass nicht alle mit gefüllten Geldsäcken hieher kamen, beweisen die zu Hunderten erlassenen Zahlungsbefehle und die zahlreichen Konkurse. Der Betreibungsbeamte von Arth hatte eine Zeitlang alle Hände voll zu tun in Neu-Goldau.”
Die Ausführungen über Goldaus Wachstum am Ende des Bergsturzjahrhunderts können wir gut so illustrieren, indem wir erwähnen, dass es damals in Goldau nahezu zwanzig Spezereiläden und – man kann es kaum glauben – 30 Gaststätten gab, welche Zahl sich seither trotz bedeutendem weitern Anwachsen erfreulicherweise auf 18 (davon zwei alkoholfreie) reduziert hat. Eingegangen sind seither u. a. Hotel Hof Goldau (seit 1905 Glühlampenfabrik), Restaurant Lagler (heute Dienstgebäude der SBB: Bahningenieur), Wirtschaft zum Anker (heute Haus Herzog), Hotel Schweizerhof (Konsum), Hotel Bellevue (später Apotheke Dr. Bergmann), Gasthaus Zentral (gegenüber Milchgeschäft Gander, heute Block Del Grande), Hotel National (heute Möbelgeschäft A. Schindler & Co.), Gasthaus Sonne (am Platz der heutigen Liegenschaft Borer beim Luzerner Viadukt), Wirtschaft zum Sternen (später eine Zeitlang Ablage EWA im Hinterdorf), Wirtschaft zum Rütli (heute Geschäft Imlig) sowie die Wirtschaft zum Eisenhof (heute Geschäft Bugmann), während der alte Hirschen vom neuen abgelöst worden ist.
Ueber die Bautätigkeit in den Wachstumsjahren seien aus Dr. Rickenbachers Aufzeichnungen – mit ein paar Retouchen – folgende Angaben herausgenommen:
- 1878
- Sägerei beim Aabach
- 1882
- Restaurant Linggi, das spätere Hotel Rigi, das zuerst neben der heutigen Molkerei Gander stand, 1896 beim Bau der neuen Bahnhofanlage in nördlicher Richtung verschoben und in den sechziger Jahren abgerissen und durch ein Hochhaus ersetzt wurde, in dem sich heute die Migros-Filiale befindet
- 1885
- Gasthaus zum Löwen mit einem kleinen Laden, dem ersten am Platze, in dem man italienische Lebensmittel, ferner Lampengläser, Dochte, Petrol und Schuhwichse kaufen konnte
- 1887
- Villa Dr. Schreiber (heute Rigiburg, Edwin Simon)
- 1889
- Petrollager
- 1890
- Wirtschaft zum Anker (Haus Herzog)
- 1892
- Metzgerei Weber (heute Papeterie Mettler) und Gasthaus Zentral
- 1894
- Teigwarenfabrik Gebr. Borioli (später Haus Contratto, Hinterdorf, heute vor dem Abbruch) und Gasthaus Bergsturz, erster Teil des Alten Schulhauses
- 1895
- Haus Erika
- 1896
- Gasthäuser Gotthard und Bären, Kaufhaus Haberthür, Hotel Bellevue und Pension Schönegg
- 1897
- neuer Bahnhof, Eilgut-Gebäude, ARB-Hochperron, drei Wohnhäuser für die Angestellten der Gotthardbahn im Hinterdorf und eins an der Gotthardstrasse, Gasthaus zur Krone, Hotels Union, National, Steiner und Volkshaus, Haus Uhrmacher Berner, Eisenhof (zugleich Wirtschaft), Bäckerei Greuter, heutiges Haus Scaler, Wirtschaft zum Rütli (heute Haus Imllg) und Gasthaus Eisenbahn
- 1898
- Schützenhaus, Hotels Alpenblick und Schweizerhof (heute Konsum)
- 1901
- Haus Karl Heinzer an der Steinerbergstrasse
- 1903
- Haus “Mon Abri” (C. Simon)
- 1904
- neuer Hirschen, Haus Grüneck (heute Alois Aschwanden, erbaut vom spätem Bezirksammann Franz Suter-Grab)
- 1905
- Wohnhäuser Sattlerei Schindler
- 1906
- Munitionsdepots, Grundsteinlegung der neuen Kirche
- 1909
- Postgebäude
- 1910
- Haus Dr. Holdener, Rigihaus
- 1911
- Pfarrhaus und Haus Annen an der Gotthardstrasse
- 1912
- Metzgerei Steiner, vier Häuser der Baugenossenschaft in der untern Sonnegg
- 1914
- Haus Dr. Rickenbacher an der Bahnhofstrasse
Aus dieser Darstellung ist klar ersichtlich, wie eng das Wachstum von Neu-Goldau mit dem der Gotthardbahn verknüpft ist. Bezeichnenderweise war es besonders sprunghaft im Jahre 1897.
1897 bedeutet aber nicht den Schluss in der Geschichte des Eisenbahnknotenpunktes. 1902 wurde das Gleis der Gotthardbahn von Immensee bis Brunnen doppelspurig ausgebaut, weil sich der Verkehr nicht mehr anders bewältigen liess. Das Jahr 1902 ist übrigens von grösster Bedeutung für das schweizerische Bahnwesen, denn damit beginnt die Geschichte der SBB, nachdem 1897/98 Räte und Volk das neue Eisenbahngesetz angenommen hatten. Arth-Goldau wurde indessen erst 1909 SBB-Bahnhof, als die Gotthardbahn an den Bund überging. 1922 wurde im Bahnhof Arth-GoIdau der elektrische Betrieb von der SBB und 1939 auch noch von der SOB aufgenommen. Die markantesten baulichen Veränderungen seit dem Erscheinen der ersten Auflage dieses Buches (1956) resultierten aus dem Uebergang des Geländes mit dem alten ESSO-Petrollager an die Firma L. Foery, Arth, die nach Errichtung von grossen Heizöltanks das Anschlussgleis den heutigen Gewässerschutzvorschriften anpasste.
Auch inskünftig wird natürlich die Entwicklung unaufhaltsam weiter schreiten, und dies um so mehr, als die Bahnen als Transportmittel einfach unersetzlich sind, woran heute angesichts der Oelkrise niemand zweifelt. Um das Ungenügen der grösstenteils noch aus dem letzten Jahrhundert stammenden Sicherungsanlagen zu beheben, haben die SBB ein Sanierungsprojekt ausgearbeitet, das mit einem Kostenaufwand von rund 60 Millionen Franken von 1973 bis 1980 ausgeführt werden soll und im wesenthchen folgende Verbesserungen vorsieht:
- Ersatz der mechanischen Sicherungsanlage durch ein modernes Gleisbildsteilwerk mit gesicherten Rangierfahrstrassen und Fernsteuerung der in den Bahnhof mündenden Strecken, das u. a. auch direkte Fahrten Steinerberg – Immensee und umgekehrt ermöglicht.
- Bau eines Doppelspurabschnittes von Arth-Goldau in Richtung Walchwil bis zum Mühlefluhtunnel. Dies erlaubt u. a., dass neben der bereits 1967 (zweite Etappe 1973) verbreiterten Unterführung der Parkstrasse nun auch die der Bergstrasse beim Chriesiwasserrank verbreitert wird, was das Goldauer Hinterdorf insbesondere vom Schwerverkehr entlasten dürfte.
- Aenderung der Gleisanlage des Bahnhofs Arth-Goldau für höhere Ein- und Durchfahrgeschwindigkeiten für alle Fahrrichtungen sowie für gleichzeitige Aus- und Einfahrten Walchwil – Steinen und umgekehrt.
- Neue Blockunterteilung und Einrichtung des Wechselbetriebes auf der Strecke Immensee – Arth-Goldau – Steinen.
- Verlängerung des Perrons und Vergrösserung der Güterumschlagsanlage.
Obwohl Goldau inzwischen auch etwas Industrie erhalten und viele seiner Einwohner als Pendler auswärts arbeiten, ist es immer noch ein Eisenbahnerdorf, in dem an die 500 Personen, sei es im aktiven Einsatz, sei es als Pensionierte, ihr Brot von den Bahnen (SBB, ARB, SOB) beziehen. Die aktiven Eisenbahner bewältigen jahrein jahraus ein gewaltiges Arbeitspensum, verkehren doch durchschnittlich 360 regelmässige Züge pro Tag, wozu je nach Saison eine grössere Zahl von Extra- und Entlastungszügen, besonders auch Fremdarbeiterzügen kommen. 1972 wurden hier fast 600 000 Personen- und Güterwagen rangiert, 160 000 Billette und Abonnemente verkauft und ca. 33 000 Frachtbriefe behandelt, während durch den Bahntelegraphen 105 000 Telegramme liefen. Ein so gewaltiger Verkehr lässt sich nur dank gewissenhafter Planung und restlosem Einsatz des Bahnpersonals reibungslos abwickeln.
Die Eisenbahn ist also der Lebensnerv von Goldau. Sie bedingt auch das eigenartige Gepräge seiner Bevölkerung, die zu einem beträchtlichen Teil aus Zugewanderten besteht, welche aber, obwohl sie aus fast allen Gauen des Schweizerlandes stammen, nichtsdestoweniger in Frieden und Eintracht zusammenleben. Wohl gab es hie und da Auseinandersetzungen mit Mutter Arth, aber zu guter Letzt fand man sich immer zu gemeinsamem Tun zusammen.
Das Thema Eisenbahn- und Eisenbahner-Goldau liesse eine unendliche Zahl von Variationen zu. Wie interessant wäre es beispielsweise, in Erfahrung zu bringen, wieviele Millionen Menschen seit Eröffnung der Gotthardbahn anno 1882 bei Tag und bei Nacht durch das Trümmerfeld des Bergsturzes hindurchgefahren sind und wieviele Tausende auch der Rigi schon nach Goldau gelockt hat! Wieviele prominente Persönlichkeiten müssen da darunter gewesen sein! Und wem würde nicht eine Aufzählung von solchen Namen gefallen! Und was denken die Fremdarbeiter, wenn sie auf der Fahrt nach dem Norden zum ersten Mal Arth-Goldau passieren?
Wir möchten hier abschliessend nur einen Namen aus dem Millionenheer herausheben, und dies obwohl die folgende Begebenheit geschichtlich nicht hundertprozentig verbürgt, sondern nur wahrscheinlich, allerdings höchst wahrscheinlich ist. Sie betrifft die Person des 1954 heiliggesprochenen grossen Papstes Pius X., der 1914, kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges, gebrochenen Herzens starb. Als er noch Patriarch von Venedig war, soll er nach Abschluss einer Bischofskonferenz von Mailand aus einen ganz kurzen Abstecher nach Maria-Einsiedeln unternommen haben – seine einzige Auslandreise – und in Goldau so spät am Abend angekommen sein, dass er nicht mehr nach Einsiedeln weiterreisen konnte, so dass er gezwungen war, in einem bescheidenen ihm von einem Eisenbahner zur Verfügung gestellten Logis zu übernachten. Die Legende hat die Begebenheit noch etwas ausgeschmückt. Wir haben es als unsere Pflicht erachtet, sie in ihrer einfachsten und wahrscheinlichsten Form im Kapitel über das Goldau der Eisenbahnen zu erwähnen, denn sie ist ein kostbares Juwel der Lokalgeschichte.