Retrospektive auf Leben und Werk von Josef Niklaus Zehnder Im Rahmen des Bergsturz-Gedenkjahres gestaltete der Kulturverein der Gemeinde Arth eine Ausstellung zum Gedenken an den vor zwei Jahren verstorbenen Goldauer Bergsturz-Chronisten. Die zahlreichen Besucher entdeckten aber einen eigentlichen Kosmopoliten und Literaten.

Walter Eigel

Angesagt war eine kleine «Hommage» an den vor zwei Jahren verstorbenen Goldauer Sekundarlehrer Josef Niklaus Zehnder. Ihm sollte im 200. Gedenkjahr des Bergsturzes eine besondere Ehre zuteil werden – ihm, der während rund 50 Jahren fast sämtliche Facetten rund um diese grösste Naturkatastrophe der Schweiz recherchiert und in unzähligen Publikationen beschrieben hatte. Was jedoch im Laufe der Vorbereitungsarbeiten aus seinem Nachlass zu Tage gefördert wurde, war Stoff, der weit über den Bergsturz hinausreicht. Er bot das Bild eines eigentlichen Weltenbürgers, Literaten und Zeitbeobachters.

Enthüllende Retrospektive

Diese Tatsache kam denn auch bei der feierlichen Eröffnung der Ausstellung zum Ausdruck. Die Vernissage vermittelte eine spannende Retrospektive auf Leben und Werk des Josef Niklaus Zehnder. Eine zahlreiche Zuhörerschaft lauschte während mehr als einer Stunde, wie einzelne Seiten in seinem Lebensbuch umgeblättert wurden. Diese Rückblende besorgten seine beiden Söhne Ramon und Gonzalo, sein Enkel Lucien sowie der einstige Lehrerkollege Markus Hürlimann und sein ehemaliger Schüler Roland Marty. Da tat sich dem Publikum eine Welt auf, die jenseits des Bergsturz-Themas lag.

Weltenbummler und Kosmopolit

Ein erste Entdeckung war der Kosmopolit Zehnder. Er war in Goldau fest verwurzelt, aber in der ganzen Welt zu Hause. Seine «Buchhaltung» verzeichnet fast 250 Destinationen auf fünf Kontinenten. Und «wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen» – doch Babá Zehnder schrieb Bücher! Essays über seine Erfahrungen in fernen Ländern, Glossen über Begegnungen mit andern Menschen, Betrachtungen über kulturelle Entdeckungen, Analysen über politische Situationen – vom Spanischen Bürgerkrieg bis zum Sowjetkommunismus… Seine Beiträge, die er als ständiger Mitarbeiter der renommierten deutschen Kulturzeitschrift «Erdkreis» publizierte, hat er fein säuberlich binden lassen – es entstand ein stattlicher Band von rund 1000 Buchseiten! Das Spektrum seiner Themen ist immens, und seine Sprache stets locker und fesselnd zugleich. Ein genialer Zeitbeobachter!

Ein Freund von Originalen

Zehnder liebte keine Kopien – er war stets auf der Suche nach Originalen. Dies im wörtlichen und im übertragenen Sinne. Die Wahrheitssuche seines geschichtlichen Forschens – sei es nun Bergsturz oder irgendwelche Kulturgeschichte – gab sich mit halbbatzigen Antworten nie zufrieden. Er wollte immer «schwarz auf weiss» die Bestätigung für seine Hypothesen haben: also Originaldokumente, zuverlässige Urkunden. Das hat ihm den Ruf eines vertrauenswürdigen Historikers eingebracht. Nicht umsonst erlebten seine geschichtlichen Veröffentlichungen – natürlich über den Bergsturz! – mehrere Auflagen.

Aber auch im übertragenen Sinne liebte er Originale – allen voran den «Güpfe-Zeni». Die Ansichtskarten, die der Zeno Weber von der äusseren Güpfe in Arth an den Schullehrer Josef Zehnder nach Goldau geschrieben hat, sind schüchterne Zeugnisse einer originellen Freundschaft. Sie waren an der Ausstellung zu sehen, ebenso wie die 12 Seiten stenografischer Notizen, die sich Zehnder über dieses Original gemacht hat – Recherchen zu einer weiteren Veröffentlichung. Und ähnlich wird es mit den andern Originalen ergangen sein, die er in seinem Büchlein «Veteranen erzählen» liebevoll und mit einem Schmunzeln im Mundwinkel beschrieben hat.

Der Lehrer – nicht wie er im Büchlein steht

Von einem Lehrer alten Schlages kann man sich so seine Vorstellungen machen: die Respektsperson im Dorf, die Autorität, die alles abschliessend weiss und beurteilt, gefürchtet von den Schülern, der Inbegriff von Disziplin… Babá Zehnder war respektiert und diszipliniert, kein Zweifel. Aber er war nicht der Lehrer, wie er im Büchlein steht – dies bezeugten in der Retrospektive übereinstimmend sowohl sein Schüler wie auch sein Kollege. Bei aller strikten Linie gingen die Schüler gern zu ihm in den Unterricht – offensichtlich weil er damit ihre Fähigkeiten und Talente herauszufordern verstand. Und bei aller Kollegialität im Team pflegte er seinen eigenen, unverwechselbaren Stil. Er ging seinen eigenen Weg.

Doch der Bergsturz liess ihn nie los…

Das Porträt von Josef Niklaus Zehnder wäre unvollständig, wenn das Thema Bergsturz ausgeblendet würde; es fehlte ihm gleichsam die Krone. Denn bei allem Weltbürgertum, bei allem literarischen Schaffen, bei aller pädagogischen Tätigkeit, bei all seiner Suche nach der Wahrheit – der Bergsturz bildete die Konstante seines Schaffens. Schon 1949, kaum im Bergsturzdorf angekommen, begann er zu recherchieren; er wollte wissen, auf welchem Boden er da seine Wurzeln schlägt. Schon 7 Jahre später, rechtzeitig zum 150. Gedenkjahr der Goldauer Katastrophe, präsentierte er sein erstes Bergsturz-Buch. Die Geschichte muss ihn völlig fasziniert haben. Und er ist dem Thema – und damit Goldau – treu geblieben. 50 Jahre lang! Das 200. Gedenkjahr konnte er nicht mehr erleben.

Ein echter Kulturschaffender

Josef Niklaus Zehnder hat ein überaus vielfältiges und reichhaltiges Schaffen hinterlassen. Was jenseits des Bergsturz-Themas liegt, bleibt noch weiter zu entdecken. Und das ist viel. Die Retrospektive spiegelt ihn jedenfalls als reichen, tiefsinnigen Geist, der das kulturelle Leben Goldaus und der Gemeinde zwischen Rigi und Rossberg nachhaltig befruchtet hat. Für Generationen von Schülerinnen und Schülern ist er zum Inbegriff des geschichtlichen Wissens und Gewissens geworden. In diesem Sinne war diese posthume Ehrung längst überfällig.

Der ehemlige «Mûsterschüler» Roland Marty ehrt seinen Meister

Die Zehnder-Familie: Enkel Lucien sowie die beiden Söhne Gonzalo und Ramon