Retrospektive auf Leben und Werk von Josef Niklaus Zehnder Im Rahmen des Bergsturz-Gedenkjahres gestaltete der Kulturverein der Gemeinde Arth eine Ausstellung zum Gedenken an den vor zwei Jahren verstorbenen Goldauer Bergsturz-Chronisten. Die zahlreichen Besucher entdeckten aber einen eigentlichen Kosmopoliten und Literaten.
Walter Eigel
Enthüllende Retrospektive
Diese Tatsache kam denn auch bei der feierlichen Eröffnung der Ausstellung zum Ausdruck. Die Vernissage vermittelte eine spannende Retrospektive auf Leben und Werk des Josef Niklaus Zehnder. Eine zahlreiche Zuhörerschaft lauschte während mehr als einer Stunde, wie einzelne Seiten in seinem Lebensbuch umgeblättert wurden. Diese Rückblende besorgten seine beiden Söhne Ramon und Gonzalo, sein Enkel Lucien sowie der einstige Lehrerkollege Markus Hürlimann und sein ehemaliger Schüler Roland Marty. Da tat sich dem Publikum eine Welt auf, die jenseits des Bergsturz-Themas lag.
Weltenbummler und Kosmopolit
Ein erste Entdeckung war der Kosmopolit Zehnder. Er war in Goldau fest verwurzelt, aber in der ganzen Welt zu Hause. Seine «Buchhaltung» verzeichnet fast 250 Destinationen auf fünf Kontinenten. Und «wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen» – doch Babá Zehnder schrieb Bücher! Essays über seine Erfahrungen in fernen Ländern, Glossen über Begegnungen mit andern Menschen, Betrachtungen über kulturelle Entdeckungen, Analysen über politische Situationen – vom Spanischen Bürgerkrieg bis zum Sowjetkommunismus… Seine Beiträge, die er als ständiger Mitarbeiter der renommierten deutschen Kulturzeitschrift «Erdkreis» publizierte, hat er fein säuberlich binden lassen – es entstand ein stattlicher Band von rund 1000 Buchseiten! Das Spektrum seiner Themen ist immens, und seine Sprache stets locker und fesselnd zugleich. Ein genialer Zeitbeobachter!
Ein Freund von Originalen
Zehnder liebte keine Kopien – er war stets auf der Suche nach Originalen. Dies im wörtlichen und im übertragenen Sinne. Die Wahrheitssuche seines geschichtlichen Forschens – sei es nun Bergsturz oder irgendwelche Kulturgeschichte – gab sich mit halbbatzigen Antworten nie zufrieden. Er wollte immer «schwarz auf weiss» die Bestätigung für seine Hypothesen haben: also Originaldokumente, zuverlässige Urkunden. Das hat ihm den Ruf eines vertrauenswürdigen Historikers eingebracht. Nicht umsonst erlebten seine geschichtlichen Veröffentlichungen – natürlich über den Bergsturz! – mehrere Auflagen.
Aber auch im übertragenen Sinne liebte er Originale – allen voran den «Güpfe-Zeni». Die Ansichtskarten, die der Zeno Weber von der äusseren Güpfe in Arth an den Schullehrer Josef Zehnder nach Goldau geschrieben hat, sind schüchterne Zeugnisse einer originellen Freundschaft. Sie waren an der Ausstellung zu sehen, ebenso wie die 12 Seiten stenografischer Notizen, die sich Zehnder über dieses Original gemacht hat – Recherchen zu einer weiteren Veröffentlichung. Und ähnlich wird es mit den andern Originalen ergangen sein, die er in seinem Büchlein «Veteranen erzählen» liebevoll und mit einem Schmunzeln im Mundwinkel beschrieben hat.
Der Lehrer – nicht wie er im Büchlein steht
Von einem Lehrer alten Schlages kann man sich so seine Vorstellungen machen: die Respektsperson im Dorf, die Autorität, die alles abschliessend weiss und beurteilt, gefürchtet von den Schülern, der Inbegriff von Disziplin… Babá Zehnder war respektiert und diszipliniert, kein Zweifel. Aber er war nicht der Lehrer, wie er im Büchlein steht – dies bezeugten in der Retrospektive übereinstimmend sowohl sein Schüler wie auch sein Kollege. Bei aller strikten Linie gingen die Schüler gern zu ihm in den Unterricht – offensichtlich weil er damit ihre Fähigkeiten und Talente herauszufordern verstand. Und bei aller Kollegialität im Team pflegte er seinen eigenen, unverwechselbaren Stil. Er ging seinen eigenen Weg.
Doch der Bergsturz liess ihn nie los…
Das Porträt von Josef Niklaus Zehnder wäre unvollständig, wenn das Thema Bergsturz ausgeblendet würde; es fehlte ihm gleichsam die Krone. Denn bei allem Weltbürgertum, bei allem literarischen Schaffen, bei aller pädagogischen Tätigkeit, bei all seiner Suche nach der Wahrheit – der Bergsturz bildete die Konstante seines Schaffens. Schon 1949, kaum im Bergsturzdorf angekommen, begann er zu recherchieren; er wollte wissen, auf welchem Boden er da seine Wurzeln schlägt. Schon 7 Jahre später, rechtzeitig zum 150. Gedenkjahr der Goldauer Katastrophe, präsentierte er sein erstes Bergsturz-Buch. Die Geschichte muss ihn völlig fasziniert haben. Und er ist dem Thema – und damit Goldau – treu geblieben. 50 Jahre lang! Das 200. Gedenkjahr konnte er nicht mehr erleben.
Ein echter Kulturschaffender
Josef Niklaus Zehnder hat ein überaus vielfältiges und reichhaltiges Schaffen hinterlassen. Was jenseits des Bergsturz-Themas liegt, bleibt noch weiter zu entdecken. Und das ist viel. Die Retrospektive spiegelt ihn jedenfalls als reichen, tiefsinnigen Geist, der das kulturelle Leben Goldaus und der Gemeinde zwischen Rigi und Rossberg nachhaltig befruchtet hat. Für Generationen von Schülerinnen und Schülern ist er zum Inbegriff des geschichtlichen Wissens und Gewissens geworden. In diesem Sinne war diese posthume Ehrung längst überfällig.
Als ehamalieger Schüler von Babá Zehnder haben ioch mich heute (via Bergsturz) wieder mal an den ehealiehen Seklehrer erinnert. Natürlich wusste ich gar nicht, dass er gestorben ist und seinen Jahrgan habe ich auch nicht gekannt (dafür den Roli Marty, bei dem ich auch in der Sek war. Falls ich ein Bild von Babá Zehnder mit einer allfälligen Biographie (wenn es sowas überhaupt gibt) als Erinnerung haben könnte wäre ich sehr dankbar.
Freundlich grüsst
Hanspeter Fässler
Bäretswil
Lieber Herr Fässler
Ziemlich genau 17 Jahr nach Ihrem am 26.10.2006 ins Netzt gesetzten Kommentars zur Berichterstattung über den Gedenkanalss meines Vaters
Dr. Josef Niklaus Zehnder
ehemaliger Sek-lehrer, genannt Baba
und Autor des in mehreren Auflagen erschienen Bergsturzbuches
(vgl.) https://www.arth-online.ch/es-muss-nicht-immer-bergsturz-sein/
stosse ich beim Durchkämmen aller Nachlass-Angelegenheiten meines am verstorbenen Vaters auf Ihren damals ins Internet gesetzten Kommentar und möchte Ihrem Wunsch, wenn auch 17 Jahre später, ein Stück weit entgegenkommen.
Ich, Gonzalo Zehnder, wohnhaft in Allschwil BL, bin der jüngere der beiden Söhne unserer Eltern Josef und María-Luisa Zehnder-Martínez.
Mein älterer Bruder Ramón, in Goldau sehr viel bekannter als ich, der ich im zarten Alter von 12 Jahren Goldau in Richtung Fribourg (dort hat mein Vater an der Universität doktoriert) ins Internat verliess und darauf hin meine Zelte studien- und berufshalber in Basel aufgeschlagen habe, ist 2020 verstorben und meine Frau und ich sind (glücklich verheiratet und Eltern eines Sohnes) – nebst diesem einen Sohn – der einzig Überlebende der Zehnder-Dynastie.
Sehr gerne stelle ich Ihnen nicht eine eigentliche Biografie meines Vaters zu, aber das Skript zum damaligen Gedenkanlass. Daraus entnehmen Sie eine Menge biografischer Details über das Leben meines Vaters.
Das Skript ist so verfasst, dass darin die Einsätze der drei Zehnders im Wortlaut wiedergegeben sind, die Beiträge von Roland Marti und Markus Hürlimann aber bloss als Stichworte festgehalten sind.
Mit freundlichen Grüssen und der Hoffnung, dass dieser Versand Sie erreicht.
Gonzalo Zehnder
Lieber Herr Fässler
Ziemlich genau 17 Jahr nach Ihrem Kommentar zur Berichtersattung über den Gedenkanalss meines Vaters
Dr. Josef Niklaus Zehnder
ehemaliger Sek-Lehrer, genannt Baba
und Autor des in mehreren Auflagen erschienen Bergsturzbuches
stosse ich beim Durchkämmen aller Nachlass-Angelegenheiten meines am verstorbenen Vaters auf Ihren damals ins Internet gesetzten Komentar und möchte Ihrem Wunsch, wenn auch 17 Jahre später, ein Stück weit entgegenkommen.
Ich, Gonzalo Zehnder, wohnhaft in Allschwil BL, bin der jüngere der beiden Söhne unserer Eltern Josef und María-Luisa Zehnder-Martínez.
Mein älterer Bruder Ramón, in Goldau sehr viel bekannter als ich, der ich im zarten Alter von 12 Jahren Goldau in Richtung Fribourg (dort hat mein Vater an der Universität doktoriert) ins Internat verliess und daraufhin meine Zelte studien- und berufshalber in Basel aufgeschlagen habe, ist 2020 verstorben und meine Frau und ich (glücklich verheiratet und Vater eines Sohnes) sind – nebst unserem Sohn – der einzig Überlebende der Zehnder-Dynastie.
Gerne komme ich – Lichtjahre nach Ihren Zeilen – Ihrem Wunsche nach und stelle Ihnen das für den Gedenkanlass erstellte Skript zu.
Die Zehnder-Partien sind im Wortlaut, die Einsätze von Roland Marty und Markus Hürlimmann in Stichworten wiedergegeben.
Hoffentlich erreichen Sie diese Zeilen!
Freundliche Grüsse
Gonzalo Zehnder
Baselmattweg 173
CH-4123 Allschwil
061 481 66 77
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GEDENKANLASS IN MEMORIAM JOSEF NIKLAUS ZEHNDER 12. Oktober 2006, Pfarreizentrum Eichmatt, 610 Goldau
Referent Dauer
Einleitung Gonzalo 4
1 Niederlassung in Goldau / Werdegang Ramón 1 5
2 JNZ als Unterrichtender aus der Sicht des Kollegen Markus 1 5
3 JNZ als Lehrer aus der Schülerperspektive Roland 5
4 JNZ als Weltenbummler Lucien 1 6
5 Bergsturz-Gedenkjahr 1956 Gonzalo 1 6
6 JNZ und das Bergsturzmuseum Markus 2 5
7 Autoren-Lesung 1984 Ramón 2 5
8 Literarisches Werk Lucien 2 6
9 Tertia Vita Gonzalo 2 5
Schlusswort Ramón 3
Moderation / Überleitungen / Schnittstellen Gonzalo 20
80
[Begrüssung / Einleitung: Gonzalo]
Was liegt bei einer Ehrung, einer Würdigung, einem Gedenkanlass an einen Schriftsteller, einen Bücherschreiber, einen Literaten näher als das Aufschlagen und das darin Herumblättern in seinem wichtigsten Werk, das gar nie publiziert worden ist? Gemeint ist das Buch, welches das Leben schreibt.
Das Lebensbuch von Josef Niklaus Zehnder, dem der Kulturverein der Gemeinde Arth im Rahmen des Bergsturzgedenkjahres 2006 eine spezielle Nische gewidmet hat und in dessen Erinnerung wir uns heute Abend hier eingefunden haben, ist – vergleichbar mit seiner literarischen Produktion – ein vielfältiges, facettenreiches Werk, in dem wir, d.h. seine beiden Söhne Ramón und ich Gonzalo, sein Enkel Lucien sowie seine ehemaligen Kollegen Roland Marty und Markus Hürlimann aus gegebenem Anlass herumblättern und gewisse Seiten aufschlagen, um Ihnen, meine sehr geehrten Damen und Herren, über die Person und das Schaffen unseres Vaters und seiner Verbundenheit mit seinem Goldau posthum Einblick zu vermitteln.
Dies tun wir im Gedenken an unseren vor ziemlich genau zwei Jahren verstorbenen Vater sehr gern, ersetzt doch dieses Wiederauflebenlassen gewissermassen den anlässlich seines Todes auf seinen ausdrücklichen, ja geradezu kategorischen Wunsch hin ausgebliebenen Nachruf.
Wir, seine beiden Söhne und meine Familie, sprechen den Initianten des heutigen Abends, dem Kulturverein der Gemeinde Arth, allen voran dem Präsidenten, Herrn Walter Eigel, unseren verbindlichen Dank aus, dass sie unserem Vater, dem Autoren des Bergsturzbuches und dem, wie man ihn bisweilen zu nenne pflegte, Lokalhistoriker der Gemeinde, diesen Gedenkanlass widmen und ihm damit eine grosse Ehre zuteil werden lassen, welcher er zu Lebzeiten in seiner bescheidenen Art mit Vorbehalt und Skepsis begegnet wäre, die ihn jedoch in seinem Innersten ausserordentlich berührt hätte.
In diesen Dank schliessen wir mit freundschaftlichen Gefühlen Markus Hürlimann und Roland Marty ein, die sich beide spontan bereit erklärt haben, im Sinne eines Freundschaftsdienstes gegenüber ihrem langjährigen Kollegen JNZ, den heutigen Abend mitzugestalten.
Beginnen wir also mit der Kursivlektüre seines Lebensbuches und schlagen wir eine erste Seite auf. Sie betrifft das Jahr 1949.
[Ramón 1] (Niederlassung in Goldau / Werdegang)
Im Frühling 1949, zu Beginn des neuen Schuljahres, nahm Josef Niklaus Zehnder in dieser Gemeinde seine Tätigkeit als Sekundarlehrer auf, die er bis 1980, also 31 Jahre lang, zuerst in Goldau und später in Oberarth ausübte.
Das Jahr 1949 darf in seiner Biographie als der Beginn einer gewissen Sesshaftigkeit bezeichnet werden. Der Lebensabschnitt nach der Typus A-Matur 1933 am Kollegium Schwyz bis zu seiner Niederlassung in Goldau widerspiegelt – um mit Goethe zu sprechen – seine Wanderjahre, seine Sturm und Drang Phase.
In der Tat, während seiner Studienjahre weilte er in Brasilien (Sao Paolo und Rio de Janeiro), belegte anschliessend Kurse an den Universitäten in Zürich, Rom, Florenz, Genf, Lausanne und Freiburg im Uechtland, wo er 1938 seinen akademischen Werdegang mit der Promotion zum Doktor der Philologie abschloss. Seine in Französisch verfasste Doktoratsthese ist eine sprachwissenschaftliche Untersuchung des ersten etymologischen Wörterbuchs der italienischen Sprache, verfasst vom französischen Sprachgelehrten Gilles Ménage aus dem XVII. Jahrhundert.
Diese Themenwahl zeigt die in seiner Biographie schon früh sichtbare ausgeprägte Vorliebe unseres Vaters zu den romanischen Sprachen auf. Er drückte sich fliessend in Wort und Schrift in Spanisch, Französisch, Italienisch und Portugiesisch aus. Nebst dem Beherrschen der englischen Sprache kamen aufgrund seiner A-Matur Kenntnisse in Griechisch und Latein hinzu. Er hat sich zeitlebens sprachlich immer weitergebildet und auch Gehversuche in Russisch und Arabisch unternommen.
In seiner Liebe zu den Fremdsprachen drückt sich eine ihm grundlegend angeborene Affinität zur Sprache schlechthin aus. Von da her betrachtet ist der nächste Schritt, jener zur Pflege des Ausdruckes in seiner Muttersprache, ein ganz natürlicher, als Deutsch-Unterrichtender einerseits und vor allem als Schriftsteller anderseits.
Diese philologische Komponente seiner Persönlichkeit kommt auch in seinen, zum Teil studienbegleitenden, Tätigkeiten bis zu seiner Anstellung in Goldau zum Ausdruck.
Unter anderem unterrichtete er zwei Jahre lang am Institut Le Rosey in Rolle am Genfersee, wo einer seiner Schüler der nachmalige Fürst Reigner von Monaco war. Im Weiteren war er als stellvertretender Lehrer an der kantonalen Mittelschule von Willisau und am KV in Wolhusen tätig.
Den Umgang mit Sprachen, so etwa die Übersetzertätigkeit oder das Feilen am eigenen Ausdrucksvermögen, betrieb er dann als Sekretär der Schweizerischen Filmwochenschau in Genf. Gleichzeitig kam er an der dortigen Universität einem Lehrauftrag für Portugiesisch nach.
Ab 1943 arbeitete JNZ als Redaktor und Übersetzer bei der Bildagentur Photopress in Zürich, bis sich 1949 das Jahr der Entscheidung einstellte.
Josef Zehnder am Scheideweg, könnte man sagen: Gegen zwei zu jener Zeit äusserst attraktive Arbeitsangebote, zum einen die Stelle eines Übersetzers bei der Kreisdirektion der SBB in Lausanne, zum anderen die des Sekretärs der Schweizerischen Verkehrzentrale in Lissabon, entschied er sich für die pädagogische Richtung und Berufung und nahm die Stelle eines Sekundarlehrers in Goldau an.
Ob dabei in seinem Unterbewusstsein, die in Anbetracht der reichlichen Ferien im Schuldienst bestehende Aussicht, seine nie nachlassenden Reiselust besser befriedigen zu können, bei der Entscheidungsfindung eine Rolle gespielt hat, bleibe dahingestellt.
Tatsache jedoch ist, dass JNZ 31 Jahre lang (ein Drittel Jahrhundert) im Schuldienst der Gemeinde Arth-Goldau gestanden hat. Ich habe den selben Beruf wie mein Vater ergriffen. Wir haben uns oft über das Pädagoge-Sein ausgetauscht. Dabei habe ich jeweils herausgespürt, dass mein Vater gerne unterrichtet hat, dass er nicht bloss irgend ein durch Lehrpläne oder ideologische Zeitströmungen vorgegebenes Programm heruntergespult hat. Viel mehr war er sich der Tatsache bewusst, dass ihm junge Menschen anvertraut waren, denen er etwas auf ihren Lebensweg mitgeben konnte, denen er seine Ideale vorleben konnte. Genau so war er sich indessen auch bewusst, dass hinter jedem seiner Schüler, hinter jeder seiner Schülerinnen auch ein Erwachsener gestanden hat, dessen Ansichten bezüglich Lernen und Erziehen sich nicht zwangsläufig mit seinen eigenen deckten.
In diesem Sinn gehen wir zu einen weiteren Abschnitt im Lebensbuch von JNZ über und schlagen das Kapitel auf, das ihn als Unterrichtenden an der hiesigen Sekundarschule zeigt. Markus Hürlimann berichtet uns davon, wie er unseren Vater als Kollegen erlebt hat.
[Markus 1] (JNZ als Unterrichtender aus der Sicht des Kollegen)
– Graue Eminenz in Oberarth als Jahrgang 1914, nächst jüngere 1929 und 1936, Rest von 13 Leuten zwischen 1941 und 1952, also dreissig Jahre jünger.
– Kollegial, aber zurückhaltend, tolerant, verschwiegen.
– Er hatte kein Mitteilungsbedürfnis wie es so vielen Lehrpersonen eigen ist. Er blieb
immer etwas geheimnisvoll und konnte mit treffenden Antworten aufwarten.
– Unterrichtete sprachlich-historische Fächer, in denen er konkurrenzlos kompetent war,
so Deutsch als ein Dichter, des Wortes und der Inhaltswidergabe mächtig, Franzö-
sisch, Italienisch, die ihm annähernd Muttersprache waren, Englisch, das damals in
der Schule noch nicht so wichtig war.
Geschichte, die ihn als Lokalhistoriker und Kosmopolit sehr interessierte, schon selbst
genug Lebenserfahrung um Vergleiche zu ziehen. Er kannte Zusammenhänge, die den
meisten Kollegen nicht bewusst waren, diese Sachkenntnisse und christliche Ideale
prägten seinen Unterricht.
Geographie war durch seine Reisen und von Kulturgeschichte geprägt.
– Seine Schüler hatten nicht nur natürlichen Respekt vor dem Alter, sondern auch vor seiner Bildung.
– Nie herabwürdigend über seine Schüler gesprochen. „Wenn du die Eltern kennst,
freust du dich, dass aus ihrem Sohn / Ihrer Tochter so etwas geworden ist.“
– Toleranz bezüglich Lehrinhalten: Es gibt einen Lehrplan und auch Themen, die nicht
darin stehen, aber wichtig sind, unterrichte auch sie!
– Der persönliche Unterrichtsstil kommt vor dem Didaktikbuch. Gehorche deinem Gewis-
sen und arbeite. Unterrichte in deinem Stile!
– Daher auch keinen grossen Wert auf Zusammenarbeit: „Du kannst von mir Unterlagen
haben, ich brauche deine nicht, ich habe meinen Weg gefunden, für die Suche des
eigenen braucht es Jahre, also gib nicht zu früh als Lehrer auf.
– Hatte auch Humor, aber trockenen und spitzfindigen.
Mein Unterrichtsbesuch während einer Zwischenstunde an einem Sams-tagmorgen der offenen Türe, als der Schulortspräfekt auch anwesend war: „Was ist der Unterschied zwischen dem Perfekt und dem Präfekt? Das Perfekt liegt unmittelbar hinter uns, der Präfekt sitzt auch hinter uns, aber er steht uns allen vor.“, als dieser ging, sagte ein Vater eines Schülers halblaut, dennoch gut hörbar: „De Seich hend mir schu gha“. Dr. Zehnder schwieg. Etwas später, als der Sohn des unangenehmen Vaters dem Lehrer eine Antwort schuldig blieb, erwiderte Dr. Zehnder: „Du brauchst dich nicht zu schämen, das hat schon dein Vater nicht gewusst.“
– Kurz: Ein väterlicher Kollege, der einen gut beriet, ein Vorbild zu einer Zeit, als man
noch keine Leitbilder kannte, sondern Vorbilder nachzuahmen versuchte.
Das war also das Portrait des Kollegen JNZ aus der Optik der Lehrerschaft, heute nennt man dieses Gebilde TEAM. Der Unterricht steht und fällt indessen mit der Qualität des gegenseitigen Umgangs zwischen der Lehrperson und seinen Schülern. Wir sind heute Abend in der glücklichen Lage, auch diese Ebene abzudecken, haben wir doch einen ehemaligen Schüler unter uns, Roland Marty. Er hat als Schüler unseren Vater erlebt. Diese Erfahrung kann kaum traumatisch gewesen sein, hat Roland doch den selben Weg eingeschlagen und wurde dann langjähriger Kollege unseres Vaters. Hören wir uns seine Erinnerung an die Zeit als Schüler unseres Vaters an.
[Roland] (JNZ als Lehrer aus der Schülerperspektive)
JNZ …
Roland Marty gehört der ersten Schülergeneration JNZ’s an. Ob der legendäre Übername BABA schon zu Beginn seiner Tätigkeit in Goldau bestanden hat, oder ob er sich im Laufe der Zeit gebildet hat, weiss ich nicht. Für ganze Generationen war der BABA ein Begriff, jahrzehnte lang hat man ihn – nicht nur in Schülerkreisen – so genannt.
Wissen Sie eigentlich, wie dieser Übername zu Stande gekommen ist?
Ich habe darüber nachgedacht und habe die folgende banale Erklärung gefunden: Als die vierköpfige Familie Zehnder 1949 von Zürich nach Goldau zog, mein Bruder war vier-, ich zweijährig, sprachen wir beide nur Spanisch. Bei uns zu Hause haben wir in Gegenwart unserer Mutter konsequent Spanisch gesprochen. Dank dieser zwischen unseren Eltern getroffenen Vereinbarung haben Ramon und ich – ohne es zu merken – zwei Sprachen von Kindsbeinen auf gelernt und gepflegt. Spanisch ist also im wahrsten Sinne des Wortes unsere Muttersprache. Deutsch haben wir dann sozusagen auf der Strasse – ebenso automatisch – dazu gelernt, bevor wir zur Schwester Bertilla in den Kindergarten gegangen und eingeschult worden sind.
Wenn wir als kleine neu nach Goldau gezogene Buben mit unserem Vater unterwegs waren – oft durften wir am Nachmittag nach Schulschluss zu ihm ins Schulhaus, wo er korrigierte oder vorbereitete – haben wir ihn jeweils nicht Vati oder Papi oder was auch immer, sondern auf Spanisch „papá“ gerufen. Daher sein Übername Baba, den ich übrigens sehr passend finde, bringt er doch die Konnotation von Väterlichkeit und Güte zum Ausdruck.
Unsere mutterseitlich spanischen Wurzeln führen uns zu einem weiteren Kapitel im Lebensbuch unseres Vaters. Es trägt den Titel: JNZ als Vielgereister, als Weltenbummler, als Globetrotter.
[Lucien 1] (JNZ als Weltenbummler)
„Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen.“
Dieser bekannten Volksweisheit hat mein Grossvater JNZ inbrünstig nachgelebt, und zwar in beiden Bereichen, sowohl hinsichtlich des Reisens wie auch des Erzählens.
Wie wir beim Schildern seines akademischen Werdegangs schon feststellen konnten, hat die weite Welt meinen Grossvater fasziniert und er hat sie – solange er konnte – ausgiebig bereist.
Die Kombination vom Zeitgefäss Schulferien und seiner Tätigkeit als Reiseleiter haben es ihm ermöglicht, mit Ausnahme von Australien sämtliche Kontinente zu bereisen und seinen Wissensdurst einigermassen zu stillen.
In seinen mit akribischer Genauigkeit geführten Reisedokumentationen hat er auch Buchhaltung darüber geführt, wo überall auswärts er auf dieser Welt übernachtet hat.
Die Übersicht ergibt ein eindrückliches Panorama von über 230 Destinationen in aller Herren Länder, wo er sein Haupt jeweils zur Ruhe gelegt hat, um neue Kräfte zu tanken.
Zu den 83 mit Ausnahme von Nidwalden, Jura und den beiden Appenzell über sämtliche Kantone gestreuten Orte seiner Schweizer-Übernachtungen kommen 147 Übernachtungsorte in vier Kontinenten hinzu.
Dass dabei Spanien mit 45 verschiedenen Destinationen, die in kulturellen Belangen allesamt von Rang und Namen sind, die Spitzenposition einnimmt, überrascht bei seiner bekannten Vorliebe für den iberischen Raum und seiner hierbei entstandenen Familienkonstellation kaum.
Nebst Spanien hat mein Grossvater in folgenden – in alphabetischer Reihenfolge aufgezählten – Ländern in verschiedenen Orten übernachtet: Es geht hier nicht um die Anzahl von
Übernachtungen, die würde wesentlich höher liegen und wohl gegen sechs ganze Jahre seines Lebens ausmachen, es geht um die Anzahl Orte, unabhängig von der Übernachtungsanzahl.
Brasilien 4 Verschiedene ÜBERNACHTUNGSORTE
Deutschland 14 Verschiedene ÜBERNACHTUNGSORTE
England 8 Verschiedene ÜBERNACHTUNGSORTE
Frankreich 11 Verschiedene ÜBERNACHTUNGSORTE
in Gibraltar
Griechenland in Athen
Indien 6 Verschiedene ÜBERNACHTUNGSORTE
Irland 7 Verschiedene ÜBERNACHTUNGSORTE
Israel 7 Verschiedene ÜBERNACHTUNGSORTE
Italien 6 Verschiedene ÜBERNACHTUNGSORTE
Jordanien 2 Verschiedene ÜBERNACHTUNGSORTE
Kolumbien 3 Verschiedene ÜBERNACHTUNGSORTE
Libanon in Beirut
Liechtenstein in Malbun
Mexiko 4 verschiedene ÜBERNACHTUNGSORTE
Nordirland 2 verschiedene ÜBERNACHTUNGSORTE
Österreich 3 verschiedene ÜBERNACHTUNGSORTE
Peru in Lima
Polen in Warschau
Portugal 8 verschiedene ÜBERNACHTUNGSORTE
Syrien in Damaskus
Türkei 5 verschiedene ÜBERNACHTUNGSORTE
UDSSR 3 verschiedene ÜBERNACHTUNGSORTE
USA 2 verschiedene ÜBERNACHTUNGSORTE
Zu diesen in seiner Dokumentation namentlich aufgelisteten 230 verschiedenen Orten, wo er in Hotels, Pensionen, Gasthäusern und Privatadressen übernachtet hat, kommen zusätzlich
– auch darüber hat er genau Buch geführt – Übernachtungen im Flugzeug auf Langstrecken hinzu, nämlich 7 an der Zahl, unter anderen von Rio nach Dakar oder von New York nach Amsterdam, dann die Nächte auf Schiffsreisen (10 im Mittelmeer und 21 im Atlantik), des weiteren 25 Nächte im Zug, und zwar in Frankreich, Österreich, Italien und Spanien und zu guter letzt 2 im Auto als Mitreisender durchfahrene Nächte in Frankreich.
Die beim Besuch dieser enormen Anzahl Destinationen in aller Welt gewonnen Eindrücke haben JNZ geprägt und er hat sie in seinen Publikationen literarisch verarbeitet. Mehr davon erfahren Sie später.
Sie merken, sehr verehrte Anwesende, dass wir im Begriff sind, bei unserem Rückblick den Akzent auf das schriftstellerische Schaffen von JNZ zu verlagern.
Seine ersten Publikationen sind historisch inspiriert. 1950 erfolgt die Veröffentlichung seines ersten umfassenden Werks mit dem Titel „Diplomatie, menschlich und allzumenschlich / Ein Brevier des diplomatischen Lächelns“.
Ich möchte Ihnen bei dieser Gelegenheit die Widmung, die er diesem Buch voranstellte, nicht vorenthalten:
„Ramón Carmelo und Gonzalo Cristóbal, den geschworenen Feinden der Diplomatie”
Das blosse Betrachten des Titels lässt schon erahnen, dass diesem Buch eine breit angelegte Recherchier-Arbeit zu Grunde liegt.
Als JNZ sich in Goldau niederlässt, ist er demnach mit Sichten von Unterlagen, Berichten, alten Schriften, kurz mit dem Umgang mit historischem Dokumentationsmaterial vertraut.
Diese dokumentarische Vorgehensweise bringt uns unverzüglich zum nächsten Kapitel in seinem Lebensbuch. Wir schlagen auf beim 2. September 1956.
[Gonzalo 1] (Bergsturz-Gedenkjahr 1956)
Am 2. September 1956 – es war ein Sonntag – fanden in Goldau die Kundgebungen zum 150. Bergsturzgedenkjahr mit einer gross angelegten Feier ihren Höhepunkt.
Am Vormittag wurde in der Goldauer Pfarrkirche, die an jenem Tag ihr fünfzigstes Wiegenfest feierte, vom damaligen Diözesanbischof, Christianus Caminada, ein Pontifikalamt zelebriert. Viel Prominenz wohnte der feierlichen Messe bei: der damalige Vorsteher des eidg. Depertements des Inneren, Bundesrat Philipp Etter, die Kantonsregierung in corpore, der Gemeinderat, Vertreter von Kantons- und Bezirkrat – um nur die Notabelsten zu nennen.
Am Nachmittag wurde das Bergsturzdenkmal von Josef Bisa enthüllt. Gehaltvolle Produktionen der Ortsvereine umrahmten den Festakt, der seinen Höhepunkt in der Rede des Magistraten Philipp Etter erlebte.
Zum Abschluss der Feierlichkeiten richtete Nationalrat und alt Landamman Josef Heinzer in seiner Eigenschaft als Ehrenpräsident des Organisationskomitees vor der versammelten Zuhörermenge seine Dankesworte an all jene, die sich bei der Vorbereitung der Gedenkfeier, bei der Durchführung des Gedenkjahres und bei der Gestaltung der Festakte am 2. September eingesetzt hatten.
Die Pressestelle der Bergsturzkommission nahm in der Zeitung, der die hier vorgebrachten Fakten und Namen entnommen sind, die behördlichen Dankesworte auf und schloss die Berichterstattung mit dem Wortlaut:
„Dank gebührt auch den Vertretern der Informationsmittel, die unserer Sache immer und immer wieder ihre Sympathie erwiesen haben. Diesem Dank schliesst sich die Bergsturzbuchkommission an, für das grosse Interesse, das man dem neuen Bergsturzbuch allenthalben, namentlich aber innerhalb der Gemarchungen unserer Gemeinde, entgegenbrachte. Sie benutzt die Gelegenheit, allfällige weitere Interessenten für das Buch darauf hinzuweisen, dass es einstweilen noch zum Vorzugspreis von Fr. 3.80 bei der Bergsturzbuchkommission, Postfach 56, Goldau, bestellt werden kann.“
Dass dieser Tag für unseren Vater von Bedeutung war, versteht sich von selbst. Sein Beitrag, das Verfassen des Bergsturzbuches, muss ihn seinerzeit – wir, die beiden Söhne, waren
damals zu klein, um den Effort überhaupt erfassen oder einordnen zu können – über Massen beansprucht haben, fiel doch die ganze Konzept-, Recherchierungs-, Dokumentierungs- sowie Redaktionsarbeit in ein zeitliches Umfeld, das für ihn, so entnehmen wir aus seinen in der betreffenden Zeit spärlichen Tagebuchnotizen, alles andere als produktiv und motivierend war.
In der Tat finden sich im besagten Tagebuch (es handelt sich um ein familieninternes, nur seine Privatsphäre betreffendes Tagebuch) für die Zeit vom 14. Februar 1956 bis Ende Oktober 1956 keine Eintragungen. Erst unter dem 1. November 1956 ist dann zu lesen:
„Wie unendlich viel ist seit der letzten Eintragung passiert: Reise nach Fatima, schwere Erkrankung (sechs Wochen Spitalaufenthalt), María-Luisa im Spital in Luzern mit Operation, Ungarn- und Suezkrise mit Kriegsgefahr, Bergsturzgedenkjahr mit viel, viel Arbeit. Bergsturzbuch erschienen.“
Noch vor der definitiven Drucklegung hat JNZ dem damaligen Bundesrat Philipp Etter, wohl im Hinblick auf die bei der Feier in Goldau zu haltenden Rede des Magistraten, einen Probedruck zugestellt.
Die zwei handgeschriebenen, an unseren Vater gerichteten Antwort-Briefe des damaligen Innen-Ministers haben den folgenden Wortlaut:
Vorsteher des
Eidgenössischen Departements des Innern
(Handschrift)
Dussnang, den 14.7.56
Sehr verehrter Herr Dr. Zehnder!
Für die freundliche Zustellung Ihres Bergsturzbuches danke ich Ihnen herzlich. Ich kann mich jetzt in den Korrekturbögen während den Ferien gut etwas umsehen und mich in die Atmosphäre der Katastrophe einfühlen.
Beste Grüsse! Etter
und bloss zwei Tage später ein weiterer bundesrätlicher Brief:
Vorsteher des
Eidgenössischen Departements des Innern
(Handschrift)
Dussnang (Kurhaus), 16.7.56
Sehr verehrter Herr Dr. Zehnder!
Gestern habe ich Ihre Bergsturz-Schrift zum grössten Teil durchgelesen, und ich kann Sie zu dieser formell und inhaltlich ausgezeichneten Arbeit von Herzen beglückwünschen. Mich hat die Ehrung, die Sie darin auch der Sr. Hedwigis und ihrem Werk zuteil werden lassen, besonders gefreut. Der Aufführung ihres Rossberg-Melodramas habe ich seinerzeit beigewohnt, und ich kann mich noch gut erinnern, dass ich ihr nachher sagte, das Lied „Bäuerlein, Bäuerlein, nimm dich in acht“ werde in den bleibenden schweizerischen Liederschatz eingehen.
Nun weiss ich leider nicht mehr, zu welchem Zweck Sie mir Ihre Schrift schickten. Als Dokumentation für meine Ansprache, oder habe ich Ihnen gar ein Vorwort zugesagt? Es geht mir eben so manches durch den Kopf, sodass leider nicht alles drin bleibt.
Beste Grüsse! Ihr Philipp Etter
Eine grossformatige Kopie dieser beiden Briefe finden Sie, geschätzte Anwesende, in der Ausstellung.
Im Anhang zur Zweitauflage des Bergsturzbuches ist die Rede, welche Bundesrat Philipp Etter anlässlich der 150-Jahr Feier in Goldau gehalten hat, abgedruckt. Daraus habe ich die folgende Passage festgehalten. Herr Etter spricht dabei von Bisa-Denkmal und sagt:
„Dies ist wohl der Gedanke, den der Bildhauer in seinem Denkmal zum Ausdruck bringen wollte: Vor dem Unglück fliehende Jugend! Jugend, die einen Blick vorwärts und in die Zukunft richtet! Aus der Geschichte des Bergsturzes, die Euer Josef Niklaus Zehnder meisterhaft geschrieben hat und die zu einer eigentlichen Geschichte Eures Dorfes und Eurer Gemeinde geworden ist, habe ich ersehen, welch blühende Entwicklung Euer Gemeinwesen seit der Katastrophe zu verzeichnen hat.“
Rückblickend lässt sich feststellen, dass das Schreiben des Bergsturzbuches, das nach 1956 noch zwei zusätzliche, erweiterte Auflagen (1974 und 1988) erlebte, eine eigentliche Weichenstellung in Richtung Verwurzelung unseres Vaters mit der Geschichte dieses Dorfes und seiner näheren Umgebung darstellt. Bei den Recherchierungsarbeiten für die Niederschrift war JNZ gerade mal knappe 5 Jahre in Goldau ansässig. Der Erfolg seines Buches, für das er mit der heute eröffneten Ausstellung geehrt wird, zeigt sich schon daran, dass sein Bergsturzbuch Anlass zu dieser (ich übernehme den Wortlaut des offiziellen Veranstaltungskalenders) Sonder-Ausstellung zur Würdigung des grossen Bergsturz-Chronisten geworden ist und wir uns heute Abend IN MEMORIAM JOSEF NIKLAUS ZEHNDER in diesem Saal eingefunden haben.
Bei der Erstauflage vor 50 Jahren anlässlich der 150-Jahrfeier wurde sein Bergsturzbuch, wie wir gesehen haben, in der Lokalpresse zwar angepriesen und zum Verkauf angeboten, der Name des Autors indessen blieb unerwähnt.
Zum Abschluss dieses Kapitels noch eine anekdotische Betrachtung zur Preisentwicklung von 1956 bis heute:
Im erwähnten Zeitungsartikel über den Gedenkanlass 1956 wird das Bergsturzbuch für Fr. 3.80 feilgeboten. Die 3. Auflage ist derzeit für Fr. 24.00 zu kaufen. Das entspricht einer Wertsteigerung (oder Inflationsrate) von 630%! So weit zum Bergsturzbuch!
Die durch das Sich-Auseinandersetzen mit der Bergsturzmaterie entstandene Verwurzelung unseres Vaters mit seiner Wohngemeinde zeigt sich ausserdem auch in seiner langjährigen Mitarbeit in den Gremien des Bergsturzmuseums.
Um uns darüber zu berichten, ist Markus Hürlimann, der langjährige Museums-Kurator, der geeignete Mann.
So schlagen wir die entsprechenden Seiten im Lebensbuch auf:
[Markus 2] (JNZ und das Bergsturzmuseum)
Als eingefleischter Historiker mit Goldau verbunden und massgeblich am Entstehen des Bergsturzmuseums beteiligt (nicht nur Buch).
Er war Schriftführer bei der Gründung der Stiftung Bergsturzmuseum, als der Gründer Edwin Simon starb und sein Lebenswerk, die Sammlung in der Militärbaracke, in ihrer Existenz gefährdet war.
Er hat mir gegenüber sehr selten von seiner Mitarbeit zur Entstehung des vor 50
Jahren eingeweihten Bergsturzmuseums gesprochen. Er sei bloss Aktuar gewesen. Wie viele Briefe er zur Unterstützung dieser Sache geschrieben hat, habe ich erst erfahren, als ich die vielen Ordner voller Kopien im Museumsarchiv vorfand.
Auch Forschungsanfragen und Beantwortungen von allerlei Fachfragen hat er laufend verfasst.
Übrigens bin ich durch ihn Aktuar, dann Verwalter des Museums geworden. Er hat mich in seiner Art ermutigt Neues anzupacken: „Gang emol, probiers, es god de scho. Du chasch das de Lüt guet erchläre.“ So wurde ich nebst Aktuar auch noch Museumsaufseher und –führer.
Erst nach den gemachten eigenen Erfahrungen hat er lächelnd die seinigen geschildert. Er hat diese in einem kurzen Essay 1981 niedergeschrieben mit dem Titel: Gaumer im Bergsturzmuseum, aus dem ich Ihnen einige Passagen vorlesen möchte:
– Gaum/ner
– Duden
– Hänsel und Gretel
– Beschlagenheit
– Zwischenfälle am Schalter
Hiermit haben Sie auch eine Kostprobe seines Stils erhalten.
Ich habe von der sich aus dem historischen Schaffen meines Vaters ergebenden Verwurzelung mit den hiesigen Gegebenheiten und Leuten gesprochen.
Zeugen davon sind spätere Werke, die zwar sehr wohl die Gemeinde, nicht aber direkt den Bergsturz zum Thema haben.
Ich denke dabei an „Veteranen erzählen ihr Leben“ (1967), wo er bestandene Männer aus Gemeinde und Kanton zu Worte kommen lässt und der Leserschaft ihre Lebenserfahrung und Lebensweisheit näher bringt. Hierfür musste sich JNZ ebenfalls dokumentieren, indem er diese Leuten – heute nennt man das – interviewte. Er selber hätte den gleichen Vorgang mit „ihnen einfach zuhören“ bezeichnet.
Im Vorwort zum diesem Veteranen-Büchlein schreibt unser Vater:
„Ich muss ein zweifaches Merci aussprechen, nämlich eines an die Adresse des Vorstands des Einwohnervereins für seinen Zustupf an die Druckerkosten und ein anderes an die unseres Malers Hans Schilter, der mit seinen Zeichnungen meine Zeilen belebt und ihren heimatlichen Charakter etwas unterstrichen hat.
Dann sei darauf hingewiesen, dass der Reinerlös dieser Arbeit unserem schmucken Bergsturzmuseum zugute kommt, das ich auch von dieser Stelle aus dem Wohlwollen und Interesse aller bestens empfehlen möchte.“
Bezeichnend ist bei diesem Gedankengang unseres Vaters, dass er von spricht. Er war sich bei der Themenwahl seiner Werke bewusst, dass es um die Darstellung, das Festhalten, das der Leserschaft Näherbringen seiner Heimat ging.
Diese Grundhaltung kommt auch in seinem Beitrag mit dem Titel „100 Jahr Bahnhofbuffet Arth-Goldau“ in der Festschrift „Unser Bahnhof Arth-Goldau“, die anlässlich des Bahnhoffestes 1985 verfasst worden ist, zum Ausdruck.
Vor diesem Hintergrund der lokalen Berichterstattung gehen wir jetzt zu einem weiteres Kapitel über, es betrifft die 80er Jahre, das uns zeigt, dass JNZ nicht in einem Elfenbeinturm Literatur produzierte, sondern dass man hier um sein Schaffen wusste.
[Ramón 2] (Autoren-Lesung 1984)
Am Samstag, 1. Dezember 1984, wurde JNZ im Pfarreizentrum Eichmatt von Goldau in Anwesenheit von etwa 150 Personen anlässlich eines von der Kulturkommission der Gemeinde Arth in Zusammenarbeit mit dem Cantina-Verlag organisierten öffentlichen Autorenabends für sein literarisches Schaffen geehrt. Gleichzeitig fand die Vernissage seines Werkes „Es muss nicht immer Bergsturz sein“ statt, in deren Verlauf unser Vater Passagen aus seinem jüngsten Werk vorlas.
Gemeinde- und Schulvertreter würdigten damals JNZ und überreichten ihm eine Urkunde sowie eine aus der Feder seines Freundes Hans Schilter stammende Radierung vom „Güpfen-Zeni“. Mit Hans Schilter und seiner Frau Frederike haben unsere Eltern freundschaftlichen Kontakt gepflegt.
Zur Erinnerung an diesen Ehrenanlass seien an dieser Stelle einige wenige Zitate aus damaligen Zeitungsberichten angebracht:
Rigi Post / Freitag, 7. Dezember 1984
Ein überraschend guter Besuch war dem öffentlichen Autoren-Nachmittag vom vergangenen Samstagnachmittag im Pfarreizentrum „Eichmatt“ in Goldau beschieden. Rund 150 Personen belegten den letzten Platz im geräumigen Foyer, wo Adalbert Spichtig als Vertreter der Kulturkommission der Gemeinde Arth und namens des Cantina-Verlages Goldau das Grusswort sprach.
Wie der Bahnhof, der Tierpark und der Bergsturz gehört Dr. J.N. Zehnders literarisches Schaffen zu Goldau. Er weiss sich genau, vielseitig und seine Themen nach allen Seiten be-
leuchtend auszudrücken, wie Dr. Edwin Simon in seiner Laudatio ausführte. Aus seinen
Werken spreche die tiefe Beziehung zu den Menschen und ein waches Auge für das Wahrnehmbare; etwas, was uns gar oft entgeht.
In einer Kurzansprache würdigte Oberstufeninspektor Albert Staub, Oberarth, den Autoren mit dem Thema „Ein Leben für die Schule“.
Ein Streicherensemble der Musikschule der Gemeinde Arth verlieh der kleinen Feierstunde einen festlichen Rahmen.
Den Autoren-Nachmittag beschloss Gemeindepräsident Fidel Kenel mit Dankesworten an den Autoren für sein beachtliches Engagement auf lokalgeschichtlicher Ebene, aber auch als Lehrer und Erzieher während seiner 31jährigen Tätigkeit an den Oberstufenschulen der Gemeinde.
Luzerner Neuste Nachrichten / Mittwoch, 5. Dezember 1984
ES MUSS NICHT IMMER BERGSTURZ SEIN lautet der Titel des neuen Buches von Josef Niklaus Zehnder aus Goldau. Zehnder gesteht freimütig, dass er den Titel zur Hälfte einem seit etlicher Zeit in Zug lebenden weltberühmten Autor gestohlen habe. Da jener Autor aber Multimillionär sein müsse, so werde dieser kaum gerichtliche Schritte gegen den pensionierten Goldauer Sekundarlehrer Josef Niklaus Zehnder unternehmen.
Zehnder hat jahrelang in Zeitungen und Zeitschriften viel über den Goldauer Bergsturz vom 2. November (kein Versprecher!!!, so stand es in der LNN) 1806 geschrieben, und sein Buch über dieses Thema ist in zwei Auflagen ziemlich verbreitet. Welcher Titel lag also für Zehnders „Schwanengesang“ wie er seine neuste Veröffentlichung im Vorwort nennt, näher als
„Es muss nicht immer Bergsturz sein“? Um so mehr, als in diesem Buch vom Bergsturz so gut wie nie die Rede ist.
Vaterland / Dienstag, 4. Dezember 1984
Anlässlich der Herausgabe seines neuen, sehr adretten Werkleins mit dem leicht ironischen Titel „Es muss nicht immer Bergsturz sein“ hat die Ortschaft Goldau seinen „Bergsturz-Zehnder“ geehrt. Der heute 70jährige Josef Niklaus Zehnder hat in diesem Bändchen Beobachtungen, Begegnungen und Erfahrungen im alten Lande Schwyz, vor allem solche in seiner Wohngemeinde Arth, niedergeschrieben und veröffentlicht.
Die Vernissage dieses Büchleins und eine Lesung daraus wurde von den Goldauern aber auch gleich dazu benutzt, ihrem Autoren eine Ehrung zu verleihen. Denn Josef Niklaus Zehnder ist für die Gemeinde weit mehr als „nur“ ein Hobby-Schriftsteller. Er war während 31 Jahren Lehrer in der Gemeinde, eine Mischung von Güte, Strenge, Liebe und Originalität. Zudem hat sich Josef Niklaus Zehnder als Doktor der romanischen Sprachen zum fachlich hervorragenden Lokalhistoriker entwickelt und vor allem die Bergsturzgeschichte in zahlreichen Publikationen, vor allem auch in zwei Auflagen des Bergsturzbuches , neu aufleben lassen.
Bote der Urschweiz / Montag, 3. Dezember 1984
Im Rahmen der Veranstaltung der Kulturkommission der Gemeinde Arth und auf freundliche Einladung des Cantina-Verlages Goldau, war am vergangenen Samstag der Öffentlichkeit
Gelegenheit geboten zu einem Autoren-Nachmittag mit dem einheimischen Schriftsteller Dr. Josef Niklaus Zehnder. Das kleine Werk Zehnders einerseits und seine früheren literarischen Arbeiten anderseits stiessen auf grosses Interesse, wie der unerwartet grosse Aufmarsch zeigte.
Zum Abschluss des Autoren-Nachmittags wandte sich noch Gemeindepräsident Fidel Kenel, Arth, an den Schriftsteller und beglückwünscht ihn zu seinem neusten Bändchen, nicht ohne dessen bisheriges Wirken markant herauszustreichen und ihm als Anerkennung ein Bild mit Urkunde zu überreichen.
( Bild)
Dieser Anlass hat unserem Vater, seine uns gegenüber gemachten Aussagen zeugten davon, Freude und Befriedigung bereitet. Es war weniger das aufgrund des Anlasses unvermeidliche Auftreten in der Öffentlichkeit als vielmehr die innere Genugtuung, sein literarisches Schaffen werde wahrgenommen.
Die Parallele und unsere damit verbundenen Gefühle zwischen der Würdigung im Jahre 1984 und dem heutigen Anlass drängen sich auf.
Emotionen wie Freude, Stolz und Gerührtheit befallen uns, die beiden Söhne des heute Geehrten, anlässlich dieser posthumen Würdigung unseres Vaters im Rahmen des Bergsturz-Bizentenariums.
Gegenüber dem Werk des Bergsturz-Chronisten und des Lokalhistorikers steht – für viele verständlicherweise unbekannt – eine weitere, umfangreiche literarische Produktion, die thematisch die Grenzen seines Wohn- und Arbeitsortes weit, unendlich weit sprengt.
Wir nehmen den Titel des 1984 aus der Taufe gehobenen Bändchens ES MUSS NICHT IMMER BERGSTURZ SEIN, wandeln ihn weiter ab zu ES MUSS NICHT IMMER ARTH-GOLDAU SEIN, um einen Ausblick auf das literarisches Schaffen JNZ ausserhalb des lokalen Bereiches zu werfen.
Wer könnte uns besser Überblick vermitteln als sein Enkel Lucien, der angehende Lizentiat der dt. Literaturwissenschaften.
[Lucien 2] (JNZ’s sonstiges literarisches Werk)
„Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen.“ Dieser schon zitierte Sinnspruch lässt sich im Falle meines Grossvaters mit einem anderen in Verbindung bringen, nämlich:
„Alle Reisen haben eine heimliche Bestimmung, die der Reisende nicht ahnt.“ Wie so oft bei Sprichwörtern, haben die Schlüsselausdrücke eine doppelte Bedeutung. Tatsächlich lässt sich „Bestimmung“ als Ziel, lokal betrachtet, also als Endpunkt einer Reise – analog zu „Alle Wege führen nach Rom“ – deuten. „Bestimmung“ kann aber durchaus auch als Zweck oder Fügung ausgelegt werden.
Auf JNZ bezogen, lässt sich sagen, dass die Bestimmung seiner Reisen eindeutig im Sinne dieser zweiten Interpretation zu sehen ist.
Heute, in unserer schnelllebigen Zeit, verkommt das Reisen oft zu einer prestigeträchtigen Trophäensammlung, so ganz nach dem Motto: „Nach der Reise sahen sie auf den Photos, was sie alles verpasst hatten.“
Die Reiselust meines Grossvaters war jedoch die eigentliche Triebfeder für seine Liebhaberei, das Erzählen, das Niederschreiben von Erfahrungen, Eindrücken und Erlebnissen, angereichert mit weltanschaulichem Hinterfragen des Erlebten.
Dies zeigt sich in seiner beträchtlichen literarischen Verarbeitung von Reise-Eindrücken. Unter anderem hat er in den Jahren 1967 – 1987 in der Monatszeitschrift ERDKREIS des Echter-Verlags in Würzburg an die 60 Artikel in einem Umfang von über 1000 Buchseiten Beiträge publiziert, die zum allergrössten Teil ihren Ausgangspunkt tatsächlich in seinen Reisen haben. Da wird aber nicht nur Erlebtes festgehalten, so im Sinn einer gängigen Manier. „Ich habe was erlebt, da kann man gut ein Buch daraus machen!“ Bei JNZ ist das Erlebte Stoff, im Sinne von Stoff als Anlass für literarische Darstellung.
Beim Versuch, diese angesprochene Literatur JNZ’s einzuordnen, also jenes Werk, welches neben oder zusätzlich zur lokalhistorischen, in der Art eines Chronisten gemachten Berichterstattung über vergangene und zeitgenössische Ereignisse und Persönlichkeiten unserer Gemeinde existiert, bietet sich eine oft verkannte literarischen Gattung an, ich meine damit das literarische Essay.
Gestatten Sie mir, geschätzte Anwesende, einen Erklärungsansatz für das Verständnis des Essays zu geben, weil diese literarische Ausdrucksform in verblüffender Klarheit das auf Grund der Reisen meines Grossvaters entstandene Schriftwerk kennzeichnet.
Im Gegensatz zum Wissenschaftler ist dem Essayisten der Gegenstand nicht Erkenntnisobjekt, sondern erlebte Wirklichkeit.
Im Gegensatz zum Künstler bildet der Essayist seinen Gegenstand nicht, er findet ihn vor. Seine Kunst ist die des Nachdenkens.
Der Gegenstand wird nicht analysiert und systematisch dargelegt, sondern synthetisch erfasst, spielerisch umkreist, durch wechselnde Reflexionen in seiner vielfältigen Bezogenheit erhellt.
In der Tat, die aufgrund seiner Reisen gemachten und schriftlich festgehaltenen Gedankengänge weisen eine Spannweite auf, die vom Geographischen, über das Historische, Ethnische, Sprachgeschichtliche, Folkloristische, Gastronomische bis hin zum Religiösen und
Ethisch-Philosophischen reicht.
In der Ausstellung finden Sie unter anderem die Auflistung seiner 56 im ERDKREIS publizierten Artikel. Schon der jeweilige Titel zeigt die angesprochene Bandbreite der aufgegriffenen Themen und deren philosophischen Implementierung auf.
Zusammenfassend sei hier festgehalten, dass JNZ keineswegs beabsichtigte, als Historiker zu wirken, seine Leidenschaft war, ausgehend von Erlebtem zu erzählen, allenfalls Vergangenes und Bestehendes aus seiner Warte zu beleuchten und wieder aufleben zu lassen. Dabei ging es ihm aber nicht bloss um die Vermittlung seines Gedankenguts. Nebst dem Gehalt seines Schriftwerks war ihm auch die Form, das Gewand, in das er seine Gedanken kleidete, ein Anliegen. JNZ hat immer Wert auf den sprachlichen Ausdruck gelegt und sich selber anspruchsvolle ästhetische Massstäbe gesetzt, aus der Überzeugung heraus, das Ohr im Auge höre beim Lesen mit.
Zum Abschluss dieses der literarischen Reiseliteratur gewidmeten Überblickes sei noch erwähnt, dass JNZ nebst seinen auf historischen Fakten begründeten Büchern, nebst seinen Reise-Essays sich auch in die lyrischen Gefilde gewagt hat. Ein – wie wir bei der Vorbereitung zum heutigen Anlass feststellen mussten – bei der Familie nicht mehr auffindbares, aber z.B. in der Basler Universitätsbibliothek existierendes Frühwerk, ist ein Gedichtband mit einem
– schon damals – abgeänderten bekannten Titel: Die kleine höllische Komödie. Allerdings blieb es bei seiner schriftstellerischen Tätigkeit bei diesem Gehversuch in poetischer Ausdrucksform.
Eine Konstante, ein fester Wert in der grossräumigen – nicht Goldau-spezifischen – literarischen Produktion (Reiseliteratur) unseres Vaters ist unschwer erkennbar Spanien. Das ist für uns heute Abend Anlass, ein weiteres und für heute letztes Mal in seinem Lebensbuch zu blättern und wir schlagen – mit gutem Grund – den 19. März 1995 auf.
[Gonzalo 2] (Tertia Vita)
Der 19. März ist bekanntlich der Josefstag. Im Jahre 1995 war am Namenstag unseres Vaters der Familie nicht zum Feiern zu Mute.
Kurz vor Mittag, um 11 Uhr, erreichte uns in Goldau, in der Elternwohnung, nachdem meine Frau und ich im Spital Zug die Nacht am Bett meiner sterbenden Mutter verbracht hatten und unser damals 16jähriger Sohn derweil bei seinem Grossvater, der ihn abgöttisch geliebt hat, geblieben war, der telephonische Anruf meines Vaters, der uns am Morgen im Spital abgelöst hatte, mit der Mitteilung, Mutter sei von ihrem Leiden erlöst worden.
Im Nachhinein lässt sich sagen, der Hinschied seiner Gattin, welcher er nach seiner Pensionierung im Rahmen seiner Möglichkeiten aufopfernd betreuend zur Seite gestanden hat, stelle einen Einschnitt in seinem Leben dar, welcher ein markantes Nachlassen seiner Energie zur Folge hatte.
Fortan war er allein und fühlte sich auch, trotz regelmässigen Besuchs seiner Angehörigen, allein, vorerst für wenige Jahre in seiner vertrauten Attikawohnung, genauer gesagt in seinem Arbeitszimmer inmitten seiner Bücher und vor seiner Schreibmaschine, und später ab 1998, im Alters- und Pflegeheim Mythenpark, wo er zwar anfänglich das Hotelleben in seinem schmucken Zimmer genoss und nach wie vor Eintagesausflüge nach Basel und in die anderssprachigen Landesteile unternahm, so lange seine Gesundheit dies zuliess. Ohne es je offen zuzugeben, litt er indessen nach dem Wegsterben seiner Frau unter einer zunehmenden Vereinsamung. Stumme Signale waren unübersehbar.
Darüber hinweg vermochten auch seine nunmehr Inlandreisen, sei es mit der SBB als Inhaber eines GA’s, sei es im Auto mit seinem Sohn Ramón, nicht zu täuschen.
Das Alter machte sich unerbittlich bemerkbar, vorerst nur körperlich, zum Beispiel mit dem zunehmendem Verlust des Augenlichtes. Die in der Luzerner Augenklinik begonnene Laserbehandlung seiner Bindhautzersetzung wurde im Juli 2000 durch einen ersten Hirninfarkt jäh unterbrochen und die Weiterführung verunmöglicht. Dem Spitalaufenthalt in Schwyz folgten vier unsägliche Jahre eines von aussen her wahrgenommenen unbewussten Daseins im Bett oder Rollstuhl, bis er am 4. Oktober 2004, kurz nach seinem 90. Geburtstag die Augen schliessen durfte.
„Hinter jedem grossen Mann steht eine starke Frau“, sagt der Volksmund.
Grösse ist hier im Sinne von Leisten und Bewältigen eines immense Arbeitsvolumens gemeint. Dieses philosophische Dictum bedarf im Falle unseres Vaters einer kurzen Ausführung.
JNZ lernte seine spätere Ehefrau María-Luisa im Juli 1939 auf einer seiner Bildungsreisen im an der spanischen Atlantikküste gelegenen Santander kennen. Weder die damaligen innerspanischen Umstände des nach erlittenem Bürgerkrieg ausgebluteten Landes noch der Ausbruch des 2. Weltkriegs, der JNZ zwang, mit Mobilisiertenzügen durch Frankreich hindurch in die Schweiz zurückzukehren, konnten der sich damals anbahnenden Beziehung etwas anhaben.
Am 1. März 1944, also noch vor Ende des Weltkriegs, nach einem abenteuerlichen Flug María-Luisas von Madrid über Stuttgart nach Dübendorf, schlossen die beiden den Bund fürs Leben und liessen sich in Zürich nieder, wo mein Bruder und ich zur Welt kamen.
Zeit ihres Lebens unterstützte María-Luisa ihren Mann auf ihre Weise in all seinen Unterfangen, sorgte mehr denn einmal mit ihrem südländischen Temperament für einen Meinungsumschwung bei allfälligen Anfällen von Mutlosigkeit oder pessimistischer Stimmung seinerseits. Eine weitere Lebensweisheit fand hier ihre Bestätigung: „Les extrêmes se touchent“ oder „Gegensätze ziehen sich an“. In der Tat, die Synergien zweier grundverschiedener Charaktere, auf der einen Seite der besonnene, mitunter zu Melancholie neigende Denker, auf der anderen die temperamentvolle, in allen Lebenslagen positive Südländerin, ergaben für unsere Familie einen nicht alltäglichen Lebensbereich.
Auf ihre Art hielt sie ihm, auf manches verzichtend, über lange Jahre hin den Rücken frei. Davon hat unser Vater in Anbetracht seines zeitlebens immensen Arbeitsaufwandes zweifelsfrei grossen Nutzen gezogen. Die Feststellung, dass sie diejenige war, die in einem Umfeld, das von seinem geistigen Schaffen geprägt war, die Familie – mehr mit Instinkt als akademisch durchdacht – zusammenhielt, ist hier durchaus angebracht.
Deshalb gebührt auch seiner Frau, unserer Mutter, Schwiegermutter und Grossmutter im Rahmen der heutigen Rückschau Respekt und Anerkennung.
[Schlusswort: Ramón]
Hiermit ist, geschätzt Anwesende, unser heutiger Einblick in das Lebensbuch von JNZ beendet. Mit dem Aufschlagen gewisser Kapitel in seiner reichen Biographie ist das Thema zwar keineswegs erschöpft, anderseits wollten wir auch Sie nicht erschöpfen.
Es würde uns freuen, wenn wir mit dem mosaikartigen Erstellen seines Portraits die Erinnerung an unseren Vater ein wenig haben festigen können.
Ein Leben kann letztlich nur in der Schau nach hinten verstanden, aber nur in der Schau nach vorne gelebt werden.
Dieser Tatsache muss sich unser Vater bewusst gewesen sein, hat er doch in seinem Vorwort zum Bergsturzbuches von 1956 die folgenden Worte geschrieben, Worte, die uns heute Abend – gerade heute bei diesem Anlass – einholen und mit denen wir den Gedächtnisabend abschliessen möchten. JNZ schreibt im Vorwort zur Erstauflage seines Bergsturzbuches:
„Wenn einmal bei der 200. Schuttjahrzeit, im Jahre des Heiles 2006 post Christum natum, ein neuer Darsteller der hier behandelten Bergsturzmaterie auf die vorliegende Arbeit aufbauen kann, so dürfen sich die Bemühungen des Verfassers gelohnt haben.“
In diesem Sinne wiederholen wir unseren Dank
– den Organisatoren für die Durchführung der Ausstellung
– seinen beiden Kollegen für die Mitgestaltung des Rückblicks
– und Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren, für Ihr Erscheinen.
Herzlichen Dank im Namen der Familie Zehnder!